Artjom Filatow ist 27 Jahre alt und will seine Heimatstadt Nischni Nowgorod retten. Es geht ihm dabei nicht um das renovierte Zentrum, in dem Fußballfans im letzten Sommer aus aller Welt zusammenkamen, sondern um das „Drumherum“, wo sich, nur einen Steinwurf vom Mainstream und der Zivilisation entfernt, die alten Holzhäuser befinden. Diese Holzhäuser werden verächtlich als „Gammel-“ oder „Bruchbuden“ bezeichnet, doch genau das macht sie Artjoms Meinung nach reizvoll.
Einige von ihnen sind bereits abgebrannt oder verfallen, viele andere jedoch könnten gerettet werden. Auch deshalb möchte Artjom, dass die Menschen ihre Einstellung zur alten Zeit ändern und den unscheinbaren Hinterhöfen einen Besuch abstatten, um sich die dortigen Häuser anzusehen.
Um die „mentale Karte von Nischni Nowgorod“ neu zu gestalten, wie Artjom es ausdrückt, handelte Artjom zunächst in Eigenregie: Ab 2011 bemalte er verlassene oder halb heruntergebrannte Häuser, die keine behördliche Genehmigung benötigten und bat dann um die Zustimmung der Bewohner von Wohngebäuden. Dabei suchte er keine Standardlösungen oder -herangehensweisen, sondern entschied, dass hier ein größerer soziokultureller Prozess erforderlich ist und bekam schon bald seine Chance.
Alternative Sehenswürdigkeiten
Mit der Unterstützung einer gemeinnützigen Stiftung, in der Artjom arbeitete, entschied sich der Künstler, ein Straßenkunstfestival zu veranstalten. Dazu lud man die besten Straßenkünstler aus dem ganzen Land ein, alte Gebäude neu zu bemalen und so für Nischni Nowgorod ein neues Gesicht zu kreieren. Damit ein Haus an dem Programm teilnehmen konnte, mussten die Eigentümer des historischen Wohnraums einen Antrag stellen. Überraschenderweise tat dies eine große Anzahl von Menschen. Dabei stellte sich heraus, dass die Mieter ihre Häuser weder für verfallen hielten noch diese verlassen wollten. Stattdessen wohnen sie gerne darin, kümmern sich hingebungsvoll um sie und finden die Idee gut, sie als alternative Sehenswürdigkeit zu nutzen.
Aus dem mutigen Experiment wurde schließlich ein ganzes Festival namens „Neue Stadt: Uralt“, das von 2014 bis 2016 in der Stadt stattfand. Hierfür trafen sich die Organisatoren und sprachen mit jedem Besitzer. Auf diese Weise stellte sich heraus, dass es sehr unterschiedliche Personen mit sehr unterschiedlichen Geschichten waren, die jedoch alle mit ihren Häusern tief verbunden waren.
„Als ich im Jahr 1943 geboren wurde, brachten sie mich in dieses Haus und legten mich aufs Bett. Ich habe mein ganzes Leben hier gelebt, geschlafen und geliebt. Auch das Leben meiner Freunde, meiner Nachbarn ist mit diesem Haus verbunden. Alle Nervenstränge, alle Gedanken, alle positiven Gefühle, all der Respekt vor dem, was war, verbindet uns mit dem Haus. Deshalb können wir uns unmöglich davon trennen“, sagt Tatjana Rukawischnikowa-Nowikowa, eine der Eigentümerinnen in der Nesterowstraße.
„Mein Zuhause ist das Schönste, was ich in meinem Leben besitze. Ich hatte sogar Alpträume, das ich es verloren habe und nicht mehr finden kann“, sagt ein anderer Eigentümer Jurij Kulikow.
Darüber hinaus stellte sich heraus, dass die Eigentümer aktive Bürger sind. Das half Artjom und den Organisatoren vor allem, die bürokratischen Hürden zu überwinden und alle Anträge bestätigt zu bekommen, damit alles juristisch korrekt abläuft.
Film „Warme Wände“ über das Festival im Jahr 2015
„Zurück nach Hause“
Nachdem alles erreicht war, was ihm bezüglich der Verwandlung einzelner Häuser möglich schien, entschloss sich Artjom, einen Schritt weiterzugehen. Er fand ein verlassenes Holzhaus im Stadtzentrum, in dem sich früher ein Museum der Intelligenzija [Intellektuelle] von Nischni Nowgorod befand, und beschloss, es wieder zum Leben zu erwecken. „Man hatte das Gebäude aufgegeben, es gab dort nicht einmal Strom“, sagt Artjom.
Es kostete ihn viel Mühe, um die Stromversorgung sowie die frühere Schönheit des Hauses wieder herzustellen. Ihn inspirierte jedoch die Idee, das Museum wiedereröffnen zu können und so eine Plattform für die öffentliche Diskussion sowie die Verbreitung seiner Ansichten zu schaffen.
Auch die Ausstellung „Zurück nach Hause“ handelte davon, die städtische Umgebung zu überdenken. Sie war ein großer Erfolg und erhielt im Bereich der zeitgenössischen Kunst sogar den Innovationspreis als bestes regionales Projekt im Jahr 2017.
Dabei musste Artjom durchaus um das Leben des Gebäudes kämpfen, denn speziell für die Fußball-WM wurde die Stadt auf Vordermann gebracht und dieses heruntergekommene Gebäude mit Bannern verkleidet. Da es sich um ein Kulturerbe handelt, war es unmöglich, es einfach neu zu streichen. Stattdessen musste das Haus fachgemäß renoviert werden. Artjom hat letzten Endes jedoch dafür gesorgt, dass es in seinem ursprünglichem Zustand belassen wird.
Vor noch gar nicht langer Zeit stand die Stadtverwaltung allen Projekten von Artjom zwar weitgehend neutral gegenüber, beteiligte sich jedoch nicht aktiv an ihnen. Vor kurzem kündigte der aktuelle Gouverneur und Bürgermeister der Stadt allerdings neue Pläne für die Stadtsanierung historischer Gebäude an und Artjom hofft, dass die Versprechen umgesetzt werden.
Ausstellung im Krematorium
Derzeit widmet sich Artjom der Vorbereitung einer Ausstellung an einem sehr ungewöhnlichen Ort: einem neuen privaten Krematorium. Aus diesem Grund beschäftigte er sich intensiv mit dem Thema Beerdigung und unternahm sogar eine Studienreise in die Schweiz.
„Ich bot an, eine Ausstellung zu machen, in der wir darüber sprechen würden, wie ein Mensch auf seiner letzten Reise begleitet wird, wie man sich an ihn erinnert und wie man versucht, das Ergebnis seines Lebens festzuhalten. Dies ist eine gute Gelegenheit, über dieses Tabuthema in der russischen Gesellschaft zu sprechen“, sagt Artjom.