Wer bei russischen Freunden zum Essen eingeladen ist, wird sich zumeist über die hohe Anzahl an fettigen Gerichten wundern. Die meisten enthalten vor allem eins: Mayonnaise. Keine Sauce ist in Russland so beliebt wie Mayonnaise.
Während man in der traditionellen Küche des ländlichen Russlands noch Sauerrahm bevorzugte, begann zu Sowjetzeiten der Aufstieg der Mayonnaise. Heute ist es nicht nur ein Salatdressing, sondern auch die Hauptzutat vieler anderer Gerichte. Das russischsprachige Internet ist voll von Witzen darüber, wie Mayonnaise fast jedes Gericht schmackhaft machen kann,
Und Russlands beliebtestes Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda gab zu jedem Exemplar ihrer Neujahrsausgabe eine Probierportion Mayonnaise dazu.
Ist Mayonnaise gut für die Gesundheit?
Heute behaupten die meisten Ernährungsberater, Mayonnaise sei ungesund, doch in der frühen Sowjetzeit war genau das Gegenteil der Fall. In den 30er Jahren litt das Land unter einer Nahrungsmittelknappheit. 1936 reiste der damalige Volkskommissar für die Lebensmittelindustrie, Anastas Mikojan in die Vereinigten Staaten, um sich die dortige Massenproduktion von Lebensmitteln anzuschauen. Er brachte Maschinen und Knowhow mit und setzte so den Impuls für die Produktion einiger der heute beliebtesten Nahrungsmittel Russlands: Doktorwurst, Dosenessen und eben Mayonnaise. Bevor die Herstellung begann, probierte Stalin zunächst höchstpersönlich. Offensichtlich schmeckte es dem Sowjetherrscher, denn er gab sein okay und die Herstellung konnte beginnen.
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Tatsächlich geht die Geschichte der Mayonnaise sogar zurück bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Von Frankreich aus verbreitete die Sauce sich zunächst innerhalb Europas. Schließlich brachten europäische Siedler sie mit nach Amerika, wo sie zum Massenprodukt wurde. Das Rezept ist dabei denkbar einfach: Eigelb, Essig und Olivenöl, dazu etwas Salz und Senf zum Würzen.
In der UdSSR war nur eine Variante erhältlich, die sogenannte Provansal (Provencal) mit einem Fettgehalt von 67 Prozent. Statt Eigelb nahm man Eipulver und zudem fügte man etwas Zucker hinzu, um die Haltbarkeit zu verlängern. Andererseits enthielt die sowjetische Mayonnaise weder Farbstoffe noch andere Chemikalien.
Natürlich ist Mayonnaise nicht unbedingt als Diätlebensmittel geeignet, doch für einen Fabrikarbeiter in der damaligen Zeit war es perfekt. Sie ist fettig, lecker und sättigend. Und man kann sie zu vielen weiteren Gerichten verarbeiten. In der ersten Ausgabe des von Mikojans Volkskommissariat herausgegebenen Kochbuches “Leckeres und gesundes Essen“ von 1939 wurde Mayonnaise bereits als ideale Sauce für so ziemlich jedes Gericht unter der Sonne angepriesen. Es sollten viele weitere Auflagen dieses Buches folgen, fast jeder Haushalt in der Sowjetunion hatte eine Ausgabe im Regal stehen.
Mikojan brachte jedoch nicht nur Mayonnaise aus Übersee mit. Auch Ketchup findet sich in der ersten Auflage des besagten Kochbuchs, gemeinsam mit der Information, dass man sie in jeder amerikanischen Küche finden könnte.
Im Kalten Krieg kühlten die Beziehungen zu den USA ab und die sowjetischen Lebensmittelhersteller versuchten, die amerikanische Herkunft ihrer Produkte zu verbergen. Alle Erwähnungen derartiger Verbindungen verschwanden aus den Kochbüchern und auf Ketchup mussten die Sowjetbürger fortan sogar komplett verzichten. Erst in den 80er-Jahren gab es wieder Ketchup zu kaufen, diesmal als Import aus Bulgarien.
Die Mayonnaise war inzwischen so beliebt, dass man nicht mehr auf sie verzichten konnte oder wollte. Sie blieb – ohne Erwähnung ihrer Wurzeln – Teil der sowjetischen Küche.
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Alles schmeckt besser mit Mayonnaise
Wenn wir heute von russischer Küche sprechen, meinen wir eigentlich die sowjetische Küche. Vor der Revolution konnte man kaum von einer einheitlichen russischen Küche sprechen. Jede Region hatte ihre eigene Kochtradition. Generell gab es jedoch viel gekochtes Getreide und Suppen mit praktisch allem, was man im heimischen Gemüsegarten fand. In der Oberschicht aß man zudem auch gerne Geflügel, vor allem Fasan.
Die sowjetische Küche brachte die zahlreichen Regionalküchen auf einen gemeinsamen Nenner. Das ganze Land benutzte nun mehr oder weniger dieselben Zutaten und dieselben Kochbücher. Heutzutage sind diese Gerichte für viele Russen Kindheitserinnerung und Lieblingsessen.
Eine besondere kulinarische Herausforderung lag zu Sowjetzeiten, darin, aus einfachen, fertig erhältlichen Zutaten wie Kartoffeln und Dosenfisch mehrere Gänge zu zaubern. Mayonnaise war dabei eine perfekte Hilfe. Sie machte Teige leichter, Fleisch zarter und Salate saftiger. Kein Wunder, dass es (vor allem in den entbehrungsreichen Jahren zwischen 1980 und 1990) oft schwierig war, sie zu bekommen.
Nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung der russischen Märkte für ausländische Produkte, gelangte eine neue Welle an Saucen und anderen Lebensmitteln in die russischen Supermärkte. Doch die Nostalgie siegte und Mayonnaise ist bis heute deutlich populärer als Ketchup und ähnliche Würzsaucen.