Keine Zeit zum Nichtstun: Die durchgeplante „Freizeit“ russischer Kinder

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GEORGI MANAJEW
Russische Kinder haben viel zu tun. Freizeit ist für sie oft ein Fremdwort. Einige besonders ehrgeizige Eltern wollen durch frühzeitige und intensive Förderung ein Wunderkind großziehen. Bei anderen müssen die Kinder die nicht erreichten Träume der Eltern realisieren.

Die vierjährige Bella Dewjatkina nimmt an der TV Show „Außergewöhnliche Menschen” teil. Einem erstaunten Publikum liest sie etwas auf Russisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und Chinesisch vor, bevor sie zum Schluss auch noch ihre Arabischkenntnisse präsentiert. Bellas Mutter erzählt, dass sie und ihr Mann ursprünglich nur wollten, dass Bella lernt, fließend Englisch zu sprechen. Nach zehn Monaten kam dann noch Französisch dazu.

Zunächst lernte Bella mit Bildkarten. Im Alter von drei Jahren kam Chinesisch als weitere  Fremdsprache auf ihren Lernplan, es folgten Spanisch, Deutsch und Arabisch. Der Unterricht ist sehr vielfältig: Englisch lernt sie beim Schauspielern, Französisch im Zeichenunterricht, ihr Eislauftrainer ist Deutscher. Bella ist sicher ein Ausnahmefall. Doch viele Eltern wollen sich ein Wunderkind heranzüchten, indem sie für ihre Kinder einen Plan erstellen, der mehr Termine enthält als sie selber haben.

„Gesangsunterricht ab dem fünften, Schauspiel und Englisch ab dem sechsten, Schach ab dem siebten und Tanz ab dem neunten Lebensjahr... Dazu noch Kunstunterricht”, so beschreibt Elena aus der Stadt Miass in der Region Tscheljabinsk den Plan für ihre elfjährige Tochter Julia. Bis auf einen, bei dem gesundheitliche Gründe dagegensprechen, würden all ihre Klassenkameraden außerhalb der Schule Kurse besuchen.

Zwei Gefahren: Mangelnde Aktivität und Smartphones

Neben Schule und Kindergarten besuchen viele Kinder noch zusätzliche Förderklassen oder Sportgruppen. Im ganzen Land füttern Eltern ihre Social Media Accounts mit Bildern von den außerschulischen Aktivitäten ihrer Kinder.

Laut der russischen Statistikbehörde Rosstat leben im Land 32 Millionen Kinder unter 14 Jahren, das ist mehr als ein Fünftel der Bevölkerung. Die Eltern wollen für sie eine erfolgreiche Zukunft. Als größte Hindernisse dafür gelten mangelnde Aktivität und die Informationstechnologien.

„Wenn mein Kind keine sinnvolle Beschäftigung hätte, würde es seine ganze Zeit mit Videospielen und herumhängen verbringen”, sagt Jekaterina, Mutter des vierjährigen Roma aus Nowgorod.

„Als wir jung waren, gab es noch keine Computer oder Internet. Aber heutzutage werden die Kinder mit Informationen geflutet. Die müssen gefiltert werden”, meint die Moskowiterin Natalia, die zwei Töchter im Alter von zehn und sechs Jahren hat. „Mit der richtigen Planung haben die Kinder neben der Schule noch genügend Zeit für Sport oder um ein Instrument zu spielen. Wichtig ist, dass das Kind Interessen hat. Ansonsten kleben sie an ihren Smartphones und füllen ihre Köpfe mit einem Haufen Unsinn”, findet sie.

Da aber nicht jedes Kind von anderen Aktivitäten außer der Beschäftigung mit dem Smartphone begeistert ist, ist es Aufgabe der Eltern, eine Wahl zu treffen. Die besonders ehrgeizigen Eltern fangen damit an, kaum dass das Kind den Windeln entwachsen ist. Gibt man bei Yandex auf Russisch „Aktivitäten für Kinder…” ein, ergänzt die Suchmaschine automatisch „…ab drei Jahren” und liefert dazu 277 Millionen Ergebnisse.  

Manchmal sind es die eigenen unerfüllten Träume, die die Eltern bei der Wahl beeinflussen. Jekaterina hätte als Kind gerne Gesangs- und Klavierunterricht genommen, doch ihre Mutter war dagegen. Also nimmt nun ihr Sohn Roma Gesangsstunden. „Roma singt sehr gerne. Vielleicht sind das Mutters Gene”, sagt Jekaterina. Roma geht außerdem zum Turnen.

Zeit und Raum für sich selbst

Es mag übertrieben sein zu behaupten, dass so vielbeschäftigte Kinder gar keine Freizeit hätten. Doch auch diese freie Zeit an den Wochenenden und in den Ferien wird oft noch mit Aktivitäten ausgefüllt. Zudem gibt es zahlreiche Lernangebote in den Ferien, damit das Kind auch zu den Klassenbesten gehört, wenn das neue Schuljahr beginnt. Die meiste Zeit im Jahr haben russische Kinder wie Erwachsene eine 5-Tage-Woche.

Am 05. September 2018 erklärte das russische Bildungsministerium, dass Kinder an außerunterrichtlichen Aktivitäten teilnehmen müssten (rus). Wenn diese nicht in den Räumlichkeiten der Schule stattfinden, müssen sie einen Nachweis erbringen, wo sie an welchen Kursen teilnehmen. Ausnahmen gibt es nur bei gesundheitlichen Einschränkungen, die aber auch nachgewiesen werden müssen.  

Die Eltern in Moskau und anderen Großstädten brauchen keine Ermutigung durch den Staat. Aber in den Regionen halten sich die Schulen an die Auflage des Ministeriums. Anna aus Weliki Nowgorod hat eine Tochter und einen Sohn. Sie erzählt, dass in ihrer Stadt kaum außerschulische Aktivitäten angeboten würden und wenn, seien sie sehr teuer. Daher nähmen viele Kinder an den Angeboten der Schulen teil, um die Forderung des Ministeriums zu erfüllen.

„Permanente Beschäftigung ist ein Weg, das Aufwachsen der Kinder zu kontrollieren. Aber es hat mehr Nachteile als Vorteile”, kritisiert die Entwicklungspsychologin Anastasia Klepinina. „Jeder braucht Zeit und Raum für sich, Kinder sind da keine Ausnahme. Sie brauchen Zeit, einfach nur herumzulaufen und das zu tun, wonach ihnen gerade der Sinn steht. Das ist die beste Motivation zu lernen und Neues zu entdecken, es fördert die geistige Entwicklung und das seelische Wohlbefinden. Dinge, die zur ‚falschen’ Zeit gelernt werden, sind schnell wieder vergessen. Schlimmer noch, Kinder könnten generell die Lust am Lernen verlieren.”

Sie sagt, dass die permanente Kontrolle Auswirkungen auf das Erwachsensein hat: „Die Heranwachsenden haben kein Verantwortungsgefühl und kein Selbstvertrauen. Manchmal ist es sogar schon ein Problem für sie, sich selbst anzuziehen. Ständige Fürsorge und Kontrolle nehmen dem Kind die Möglichkeit ein unabhängiges Selbst auszubilden.”

„Von Zeit zu Zeit müssen Kinder auch mal Luft holen können. Dann müssen sie einfach online oder sonst wo sein dürfen. Nichtstun ist auch ein wichtiger Bestandteil des Lebens, sonst wird man verrückt”, sagt Anna aus Weliki Nowgorod. Ihre älteste Tochter Wera ist 16 und war schon immer tanzbegeistert. Zurzeit tanzt sie Hip-Hop. Der zwölfjährige Sohn Ilja wird zu Hause unterrichtet (nicht aus gesundheitlichen Gründen) und geht zwei Mal pro Woche in ein Sportstudio, das er sich selbst ausgesucht hat.

Was sagen die Kinder?

„Hockey anschauen mag ich nicht, ich spiele lieber selbst. Meine Freunde aus dem Kindergarten sind ein bisschen neidisch, weil ich Unterricht bekomme”, erzählt der sechsjährige Sascha aus Lytkarino bei Moskau. Sascha hat, als er noch jünger war, durchaus Stunden damit verbracht, sich mit (Mutters) Smartphone und Tablet zu beschäftigen, aber jetzt hat er andere Ziele. Sascha freut sich, wenn er Fortschritte macht: „Ich habe gerade gelernt, auf dem Eis zu stoppen. Vorher konnte ich das nur, wenn ich mich an etwas festgehalten habe, jetzt kann ich es alleine. Das war super!”

Die elfjährige Julia aus Miass, Elenas Tochter, hat ebenfalls viel Freude am Gesang. „Wenn Du auf die Bühne kommst, ist das sehr aufregend. Aber wenn die Leute anfangen zu klatschen, wird es viel leichter”, erzählt sie. Julia hat täglich zwölf Stunden, in denen sie außerhalb der Schule an Kursen teilnimmt, aber sie hat Spaß daran. „Es gab Zeiten, da war ich eifersüchtig auf Kinder mit viel Freizeit, aber je mehr ich mich mit meinen außerschulischen Aktivitäten beschäftigte, desto besser wurde es. Jetzt möchte ich gar nichts anderes mehr machen”, so Julia.  

„Ich habe meiner Mutter alles zu verdanken!”

Wir haben Erwachsene gefragt, wie sie solche Beschäftigungen in ihrer Kindheit fanden und welchen Einfluss sie auf ihr Leben hatten und welche Rolle die Eltern dabei gespielt haben. Der zweiundvierzigjährige Andrej, Vater von Ilja, ist IT-Experte. Als er sich zum ersten Mal mit Computern beschäftigte, wusste kaum jemand etwas damit anzufangen, weil den meisten das technische Verständnis fehlte. Oft hieß es, er würde nur sein Augenlicht ruinieren, wenn er so viel auf den Bildschirm starre. Doch seine Mutter war der Zeit voraus und ermunterte ihren Sohn, einen Computerkurs zu belegen. „Das war damals neu in unserer Stadt und die Kurse waren sehr teuer. Aber es hat sich gelohnt”, sagt Andrej.

Die Moskowiterin Alexandra, 32, war selbst eines der Kinder, deren Tag zu 100 Prozent durchgeplant war, ebenso wie der ihres Bruders. Letzterer sollte Sport treiben, um „groß und stark” zu werden, so wollte es die Mutter. Beide Kinder bekamen schon früh Sprachunterricht, weil die Mutter wollte, dass sie einmal die Moskauer Staatliche Universität besuchen sollten. Am schlimmsten fand Alexandra die Musikschule, die sie drei Mal pro Woche besuchen musste: „Ich habe es gehasst, obwohl ich ein gutes Gehör hatte. Meine Mutter verlangte von mir, dass ich mich zu Hause auch noch damit beschäftigte. Ich bin irgendwann gegangen, ohne den Kurs zu beenden.” Zweimal pro Woche hatte sie Volkstanz und an den Wochenenden Gitarrenunterricht. An der Schule, die sie und ihr Bruder besuchten, gab es auch viele Aktivitäten außerhalb des Unterrichts: Theater, Wanderungen, Exkursionen.

„Es klingt sehr hart, dennoch hatte ich nie das Gefühl, keine Kindheit gehabt zu haben. Den Sommer habe ich bei meiner Großmutter auf dem Dorf verbracht. Manchmal wunderte ich mich, dass andere Kinder einfach so im Garten herumtollten und ich nicht. Meine Mutter sagte dann immer, dass aus diesen höchstens Verkäuferinnen werden würden, wenn überhaupt. Sie hatte übrigens recht damit.”

Alexandra ist überzeugt, dass sie alles, was sie und ihr Bruder im Leben erreicht haben, ihrer Mutter und deren Ehrgeiz und Engagement zu verdanken haben. Sie beschäftigt sich zwar nicht mehr mit Musik, ihre Arbeit hat mit Fremdsprachen zu tun. Manchmal jedoch bereut sie es dennoch, die Musikschule aufgegeben zu haben. Ihrer Mutter gegenüber würde sie das jedoch nie zugeben, denn diese habe immer gesagt: „Wenn Du die Musikschule aufgibst, wirst Du es eines Tages bereuen.”

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