„Baba Katja”: Wie lebt es sich als Russlands älteste Briefträgerin?

Nikolai Schewtschenko
Ihre Arbeit lenkt sie von Gedanken an ihre schicksalhafte Vergangenheit ab.

Es ist keine Menschenseele zu sehen, als Jekaterina Dsalajewa langsam die steile Serpentinenstraße hinaufsteigt, um die Post in den abgelegenen Bergregionen Nordossetiens zuzustellen. Plötzlich taucht ein Wolf vor ihr auf. Schnell klettert sie auf einen Mast. Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere.

Die 83-jährige Jekaterina, die fast ein halbes Jahrhundert bei der Post gearbeitet hat, bringt noch immer Briefe in die Dörfer, die einige Kilometer von ihrem zu Hause entfernt sind. Das hat sie in ihrem Herbst des Lebens, das von vielen Tragödien geprägt war, noch bekannt gemacht.

Der letzte Brief des Bruders

Dsalajewa kam zufällig zur Post. Die Schule, die sie in Inguschetien neun Jahre lang besuchte, machte sie nicht zu Ende. Sie kehrte vorher in ihr Zuhause in Nordossetien zurück, um dort im Haushalt mit anzupacken. „Ich musste bei der Heuernte helfen und verpasste den Beginn des neuen Schuljahres. Ich wollte eine andere Schule besuchen, um die zehnte Klasse abschließen zu können, doch keine Schule nahm mich auf.” Sie arbeitet später als Leiharbeiterin bei geologischen Erkundungen und als diese abgeschlossen waren, fragte sie einen Freund, ob er ihr bei der Arbeitssuche helfen könne. Dieser vermittelte sie in die Poststelle.

„Als ich klein war, rannten alle dem alten Postboten nach. Sein Name war Dudar Basijew. Auch ich lief ihm hinterher, weil ich immer hoffte, er könne einen Brief meines Bruders für meine Eltern bringen”, erzählt Jekaterina. „Manchmal hatte er einen, manchmal nicht.” Der letzte Brief ihres Bruders kam 1942, als sie sieben Jahre alt war. Die Deutschen näherten sich Stalingrad. Sie hat die kurze Nachricht nie vergessen: „Wir fahren mit dem Zug weg, ich weiß nicht wohin. Antwortet mir nicht, ich melde mich, wenn ich angekommen bin.” Der Bruder wurde nach der Schlacht um Stalingrad vermisst, es kamen keine Briefe mehr von ihm. Wenn die 83-jährige an diesen letzten Brief denkt, füllen sich ihre Augen mit Tränen.

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Hochzeit per Brief

Briefe brachten Jekaterina auch mit ihrem späteren Ehemann Boris zusammen. „Er saß im Gefängnis. Wir haben uns durch eine Brieffreundschaft kennengelernt”, sagt sie und ihr ist die Trauer und das Bedauern über die verlorenen Jahre anzusehen.

Als sie zusammenkamen, war Jekaterina 36 Jahre alt. Vier Jahre lang brachte sie nun schon Tag für Tag die Post in die Dörfer, die nur durch eine einzige Bergstraße zu erreichen waren. „Er konnte sehr gut reden. Er hielt bei meinen Verwandten um meine Hand an und sie hielten ihn für einen Glücksfall. Er hat mir den Himmel auf Erden versprochen. Ich habe ihm alles geglaubt”, berichtet Jekaterina und breitet ihre Arme weit aus. „Aber es hat nicht funktioniert.” Boris saß sechs Jahre im Gefängnis, weil er seine Ex-Frau verprügelt hatte. Und schon bald fing er an, seine neue Frau zu betrügen. „Als ich herausgefunden habe, dass er mir untreu war, habe ich ihm gesagt, dass er gehen könne, wenn er damit nicht aufhören wolle.” Er ging und ließ Jekaterina mit einem fünf Monate alten Baby zurück. Ihre Tochter ist das einzige, wofür sie ihrem Mann dankbar ist.

Dsalajewa hat nie wieder geheiratet und 1987 bekam sie den letzten Brief eines männlichen Verwandten. Da war sie 51. Ruslan Bugulow, Jekaterinas Großneffe, war der einzige Nachkomme ihres anderen älteren Bruders, der in seinem ossetischen Heimatdorf getötet worden war. Als Ruslan 17 Jahre alt war, wurde er zur Armee einberufen und nach Afghanistan geschickt. „Ich kannte den Militärkommissar sehr gut, aber er konnte nichts dagegen tun”, sagt Jekaterina. Noch während sie versuchte, etwas zu unternehmen, wurde der Junge mit einer Gruppe sowjetischer Soldaten nach Kabul geschickt. „29 Tage vor dem Abzug aus Afghanistan hatte er einen Einsatz, von dem er nicht mehr zurückkehrte.” Sein Leichnam wurde 1987 in sein Heimatdorf überstellt. 1989 zog die Sowjetunion die letzten Soldaten aus Afghanistan ab.

Ablenkung durch Briefe

Die betagte Briefträgerin erlangte Bekanntheit, als ein lokaler Fernsehsender von der Frau hörte, die seit einem halben Jahrhundert Tag für Tag 40 Kilometer zu Fuß zurücklegte, damit die Menschen in den Bergdörfern ihre Post bekamen. Dsalajewa ist von so viel Aufmerksamkeit überrascht.  

„Wenn ich zu Hause sitze, kommen die Erinnerungen zurück und das ist schwer für mich. Für mich ist es besser, rauszugehen und mit anderen Menschen zu sprechen.” Jeder in der Stadt kennt und grüßt sie oder bleibt für eine Unterhaltung stehen. „Niemand anders in ihrem Alter arbeitet noch so viel”, sagt Raisa aus dem Dorf über ihre Nachbarin. Manch einer möchte auch ein Foto mit „Baba Katja”, wie sie genannt wird.

Jeder bietet der berühmten Briefträgerin an, sie ein Stück im Auto mitzunehmen, wenn sie die Straße entlangläuft, doch oft zieht sie es vor, zu Fuß zu gehen, so wie in ihrer Jugend.

Heutzutage läuft niemand Jekaterina in der Hoffnung hinterher, einen lang ersehnten Brief zu bekommen. Die Post besteht vor allem aus Rechnungen, Mitteilungen und Zeitungen.

Sind Rechnungen es wert, sein Leben zu riskieren? Denn in den Bergen leben Bären, Wölfe und sogar Leoparden. Bei ihrer letzten Begegnung mit einem wilden Tier, war Jekaterina gezwungen auf einen Mast zu klettern und auf die Rettung eines vorbeikommenden Autofahrers zu warten.

Aber wird beim nächsten Mal auch jemand zur Stelle sein, um ihr zu helfen? Jekaterina hat ihre eigene fatalistische Antwort darauf: „Ich habe vor nichts Angst. Wenn ich sterbe, werde ich wieder mit meinem Bruder und meinen Eltern vereint sein. Es heißt, es gibt ein Leben nach dem Tod. Ich bin da nicht so sicher, aber mir gefällt die Vorstellung.”

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