„Der Zug wird zu deinem Leben“: So lebt es sich als Schaffner auf der transsibirischen Eisenbahn

Sie sind fröhlich, mental stabil, können tagelang bei Temperaturen bis zu minus 50 Grad Celsius arbeiten, Kohle brechen, Leinensäcke schleppen und bleiben auch bei Schlägereien oder dreckigen Toiletten noch ruhig? Dann könnten Sie Schaffner auf der Transsibirischen Eisenbahn werden.

Sechs Tage braucht die transsibirische Eisenbahn für die 9.000 Kilometer von Moskau bis Wladiwostok. Damit ist sie die längste Eisenbahnlinie der Welt. Nicht jeder würde eine so lange Zugfahrt problemlos wegstecken. Die Eisenbahnangestellten fahren die Strecke regelmäßig. Fast zwei Wochen sind sie für Hin- und Rückfahrt unterwegs. Warum entscheidet man sich für so einen ungewöhnlichen Job?

Glückliche Familien

Der Anfang der Reise ist eher hässlich: Schienen, Staub, Rauch, Menschenmassen und Leinensäcke umringen den Zug. Einige Zeit später blickt man dafür auf jahrhundertealte Nadelbäume, majestätische Flüsse und weite, offene Landschaften.

Das Abteil wurde gerade saubergemacht. Das blaue Polster der Sitze sorgt für vertrauten Komfort und die Lampen über den Kojen schaffen ein warmes Licht. Eine gutfrisierte Frau von etwa 50 Jahren erscheint in der Tür. Irina Zolotenkowa ist ehemalige Schaffnerin. Heute arbeitet sie als Zugmanagerin für die Transsib. Ihr ganzes Leben war mit der Eisenbahn verbunden, sagt sie. Ihre Eltern waren Eisenbahner, sie ging auf eine spezielle Eisenbahnschule und entschied sich dann selbst, Lokführerin zu werden.

„Der Beruf gefiel mir schon immer, also war die Entscheidung einfach. In den 90er-Jahren, als kaum jemand bezahlt wurde, konnte man hier zumindest leben.“ erinnert sie sich. Vor dem Konflikt in der Ukraine arbeitete sie auf der Linie Moskau-Kiew, dann wechselte sie zur Transsib. Die Arbeit ist härter und die Reisen sind länger, aber Irina gefällt es so. Ich frage sie, wie sie mit den verschiedenen Passagieren umgeht.

„Man muss offen und geduldig sein. Wenn es Konflikte gibt, muss man versuchen, die Dinge zur Zufriedenheit aller involvierten Passagiere zu klären“, berichtet sie. Wir werden von einem Telefonanruf unterbrochen. Eine Schaffnerin meldet, dass ihre Kollegin krank sei. Ohne sie kann das Team jedoch nicht starten. Irina erklärt, dass die Angestellten normalerweise in festen Gruppen arbeiten und nur äußerst ungerne zusammen mit Fremden fahren.

„Es ist wichtig zu wissen, dass der andere voll und ganz hinter Dir steht. Vielleicht gibt es manchmal Streitigkeiten, aber eigentlich will man mit niemand anderem auf die zweiwöchige Reise gehen.“

Ich nutze die Gelegenheit und frage Irina, was ihre Familie über ihre lange, berufsbedingte Abwesenheit denkt.

„Mein Mann, meine Kinder und sogar meine Schwiegertochter arbeiten auch für die Eisenbahn. Mein Mann kann Urlaub nehmen und wir können unsere Einsatzpläne aufeinander abstimmen. In der Regel sind wir vier Tage im Monat zusammen.“ erzählt sie. Dann frage ich sie, ob zehn Tage zur Erholung ausreichen. Sie antwortet, „die ersten paar Tage sind wirklich Erholung, aber dann fängt man an, die Arbeit zu vermissen.“

Mühen und Schwierigkeiten

Vor der Abfahrt schwirren Mechaniker geschäftig um das Depot. Arbeiter schütten seifiges Wasser über den Zug, während die Schaffner die Kabinen sauber machen und schmutzige Bettbezüge aussortieren. Nachdem die Arbeit getan ist, komme ich mit Irina Bulatitskaja ins Gespräch. Sie arbeitet gemeinsam mit ihrem Ehemann als Schaffner.

„Manchmal werden die Wagons erst eine halbe Stunde vor Abfahrt angekoppelt. Sie sind dann in einem fürchterlichen Zustand und wir Schaffner müssen alles in Ordnung bringen. Wenn der Wagon schmutzig ist oder der Heizkessel nicht funktioniert, sind die Passagiere von Anfang an schlecht gelaunt. Das Zugpersonal bekommt die schlechte Laune dann besonders zu spüren“, sagt sie. Aber auch Bulatitskaja mag ihren Beruf. Vor fünf Jahren verließ die 38-jährige ihre Heimat Donezk in der krisengeschüttelten Ukraine und zog nach Russland. Seit drei Jahren arbeitet sie jetzt für die Eisenbahn.

„Um mit den aggressivsten Passagieren umzugehen, muss man gute psychologische Kenntnisse haben. Für einige ist Alkohol die beste Art, Zeit totzuschlagen, weswegen sie sich hemmungslos betrinken. Man braucht dann Nerven aus Stahl, um nicht unhöflich zu werden und um sich zu entschuldigen, obwohl man weiß, dass man Recht hat. Die Beschwerde eines Passagiers kann einen den Job kosten”, erzählt sie.

Inzwischen werden in solchen Fällen Lügendetektortests durchgeführt. Wenn es eine Beschwerde gibt und der Schaffner sagt, dass er seinen Job höflich und professionell erledigt hat, prüft die Eisenbahn so, ob er die Wahrheit sagt.

“Ich schätze mal, wenn es wirklich schwierig wird, hast du immer noch deinen Ehemann zur Unterstützung“, sage ich. Irina lacht. „Eher andersrum. Er ist kein guter Verhandler. Er fragt erst höflich nach, aber wenn es schwierig wird, übernehme ich. Mein Mann beherrscht eher die körperliche Arbeit. Er schleppt die Leinensäcke und bricht die Kohle, während ich die Wagons saubermache.“  

Ich versuche herauszufinden, warum man sich für einen solchen Beruf entscheidet. „Du hast eine schwere Arbeit, du siehst deine Kinder kaum und du kannst wegen irgendwelcher Störenfriede an Bord gefeuert werden. Wie viel verdienst du dafür?”

“Der Lohn basiert auf „Rollzeit“ antwortet Irina. „Wenn die Räder sich drehen, werden wir bezahlt. Die Zeit, in der wir die Wagons vorbereiten zählt nicht. Am Ende des Monats kommen so etwa 30.000 Rubel (ca. 410 Euro) zusammen. Also nicht viel. Selbst wenn ich zusätzliche Schichten übernehmen wollte, dürfte ich nicht. Unsere Arbeitszeiten werden vom Computer überwacht, damit wir nicht übermüden.“  

“Wenn du einen weniger stressigen Job mit besserem Gehalt angeboten bekämst, würdest du dann wechseln?“, bohre ich weiter nach.

„Sicher wünscht man sich nach einer langen Schicht etwas Ruhe, aber nur für ein paar Tage. Dann vermisst man das Schwanken des Zuges und die vor dem Fenster vorbeiziehenden Landschaften. Letztes Jahr habe ich mich für ein Ingenieursstudium beworben, mich aber inzwischen dagegen entschieden. Jetzt lerne ich, um irgendwann Zugmanagerin zu werden. Ingenieure kommen nicht herum, aber ich könnte ohne das ständige Reisen nicht mehr leben.“  

Ein Mittel gegen die Einsamkeit

Der 47-jährige Wjatscheslaw Wolodin ist seit vier Jahren als Schaffner auf der Transsibirischen Eisenbahn angestellt. Sein Traum war das nie. Nachdem er aus der Armee ausschied, wollte er ursprünglich Zugelektriker werden. Die Regeln verlangen aber, vorher als Schaffner gearbeitet zu haben.

Er redet nur ungerne über seine Vergangenheit. Heute lebt er für die Transsib. Auch Wjatscheslaw hat ein festes Team, anders als viele Kollegen arbeitet er aber auch gerne mit unbekannten Partnern.

„Am Anfang nimmt man sich noch Zeit, um aus dem Fenster zu gucken oder um den Baikalsee zu fotografieren. Nach einiger Zeit achtet man aber kaum noch auf die Landschaft. Es gibt genug Arbeit. Mal muss etwas sauber gemacht werden, mal muss man auf einem nicht elektrifizierten Streckenabschnitt die Kohleöfen beheizen“, meint er.

Ein besonderes Erlebnis für die Bahnangestellten war die Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Während dieser reisten Passagiere aus aller Welt mit der transsibirischen Eisenbahn.

„Einmal hatten wir Peruaner an Bord, die hauptsächlich barfuß durch den Zug gingen. Ich versuchte ihnen zu erklären, dass sie zumindest auf der Toilette Slipper anziehen sollten. Sie gingen dann in Socken. Dabei ist der Boden immer klatschnass, wenn sich jemand gewaschen hat“, erzählt Wolodin.

Wie viele seiner Kollegen spricht Wjatscheslaw nicht fließend Englisch. Meistens jedoch reichen seine Schulkenntnisse. Wenn nicht, dann hilft er sich mit Gesten und Körpersprache und begleitet die Passagiere persönlich zu ihrem Abteil.

„Das Schwierigste ist es, den Passagieren zu erklären, dass unsere Züge Vakuumtoiletten haben. Man darf nichts in den Abfluss werfen. Einmal nahm ich eine Gruppe Chinesen mit auf die Toilette und zeigte ihnen, entschuldige bitte die Details, wo sie ihr benutztes Toilettenpapier hintun müssen.“ lächelt der Schaffner.

„Was ist mit Passagieren, die sich betrinken oder rauchen? Ich habe gehört, dass sei ein Problem. Oder sind das Ausnahmefälle?“, frage ich. Wjatscheslaw lacht: „Natürlich passiert das, aber die meisten Fahrgäste sind nett. Wenn sie die ganze Fahrt von Moskau bis Wladiwostok an Bord bleiben, sind sie am Ende fast wie eine Familie.“

Mir wird klar, dass Schaffner zu sein für Wjatscheslaw mehr ist als nur ein Job. Obwohl er seine Arbeit als Routine bezeichnet, scheint es, als wären die Passagiere eine Ersatzfamilie für den alleinlebenden Mann. Vor seinem nächsten Einsatz hat er fast eine Woche frei, aber eigentlich würde er gerne früher zurückkehren.

„Zwischen den Fahrten weiß ich nichts mit mir anzufangen. Der Zug wird dein Leben.“ sagt er.

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