Beten vor dem Bildschirm? Die Online-Strategie der russisch-orthodoxen Kirche

Warwara Grankowa
In Russland kann man jetzt beten und beichten, ohne das heimische Sofa zu verlassen. Grund dafür sind digitale Angebote der Kirche. Verträgt sich das mit den Werten der Orthodoxie?

Jewgenija, 25, arbeitssuchende Krankenschwester aus Sergijew Possad, hat sich verliebt. „Ich habe einen neuen Freund und kann mit ihm über alles reden. Es ist, als wären wir Seelenverwandte. Er bedeutet mir sehr viel“, sagt sie stolz. Alles wäre perfekt, wenn sie nicht bereits verlobt wäre. Die Hochzeit ist sogar schon geplant. Doch Jewgenija hat Zweifel, ob sie mit dem Richtigen den Bund fürs Leben eingeht.

Daher teilt sie ihre Sorgen mit den 85.000 Mitgliedern der Online-Community „Batjuschka Online“ (dt.: Online-Priester). Immer mehr Russen treten innerhalb der Grenzen der digitalen Welt mit einem Priester in Kontakt.

Gestreamte Beichten als Weg zum Glauben?

Jewgenija sagt, der Weg zur Kirche wäre ihr zu stressig. Im Internet muss sie weder ein Kopftuch tragen noch getauft sein oder lange warten. Dafür verzichtet sie auf das Beichtgeheimnis.

An diesem Punkt kommt Batjuschka Online ins Spiel. Die Seite wurde 2011 von Nadeschda Semskowa, einer Absolventin der Staatlichen Technischen Universität Uljanowsk, ins Leben gerufen. Die Idee entstand aus einem 2010 gegründeten Jugendclub der Orthodoxen Kirche an ihrer Universität.

„Nicht jeder kann persönlich zu einem Priester gehen. Und selbst wenn, haben sie nicht immer Zeit, persönlich mit einem zu sprechen. Online ist die Interaktion einfacher. Unsere Community ist ein Schritt auf dem Weg zu Gott und zur Kirche“, meint sie.

Inzwischen arbeiten mehr als hundert Priester und auch einige höhere Kleriker freiwillig für Batjuschka Online. Meistens antworten sie schriftlich, doch gelegentlich gibt es auch Videoantworten. Diese erreichen regelmäßig zehntausende Zuschauer. Meistens geht es dabei um Untreue, Streit mit den Eltern, nichttraditionelle sexuelle Orientierungen und Schulden.

Die Seite motiviere jedoch nicht dazu, persönliche Dinge ins Internet zu stellen, meint der für die Live-Übertragungen verantwortliche Abt (russisch: Hegumen) Luka. Wer nicht persönlich in die Kirche kommen kann, kann sich privat an einen Priester wenden. „Der Zweck von Batjuschka Online ist es, auf seine Probleme aufmerksam zu machen. Danach kann man wahlweise privat kommunizieren oder doch in die Kirche gehen“, erklärt Luka.

Jewgenijas Probleme waren nicht privat. Nach 24 Stunden erhielt sie eine öffentlich sichtbare Antwort von einem Priester. Ihre Gefühle für den Freund seien bloß ein Test Gottes. Sie sagt zwar nicht, ob die Antwort ihr geholfen hat, aber befreit fühlte sie sich danach definitiv.

Anonyme Beichten

Für Menschen mit ähnlichen Problemen, die das Ganze lieber anonym beichten möchten, gibt es die Website molites.ru. Sie wurde vor 15 Jahren von Unbekannten ins Netz gestellt.

„Herr, vergib mir die unanständigen Seiten und die expliziten Fotos“, „Herr, ich leide. Hole mich aus diesem Sumpf der Selbstbefriedigung“ oder „Herr, vergib mir, dass ich mit fragwürdigen Personen geschrieben habe.“ So ähnlich sehen die meisten Beiträge dort aus. Gelegentlich gibt es auch Beichten zu Abtreibungen, Ehestreitigkeiten oder ertränkten Kätzchen. Auch ein Gebet dafür, dass der Sohn seine Informatikprüfung bestehen soll, kann man hier finden.

Die Seite bietet Platz für Bemerkungen. Jeder Besucher der virtuellen Kirche kann die Beichten kommentieren.

Anonymer ist die komische Seite E-Batjuschka (E-Priester) des Programmierers Denis Nebesny. Diese ist erst seit 2014 im Netz und veröffentlicht die Beichten nicht. Bloß die Programmierer (und Gott) sehen, was man geschrieben hat. Um eine Beichte abzuschicken, muss man ankreuzen, dass man „erfüllt von Frömmigkeit“ ist.

Die Betreiber beider Portale äußerten sich nicht zu Anfragen seitens Russia Beyond.

Kein Ersatz für die Beichte

Die Menschen, die online beichten, hätten oft Angst vor den negativen Reaktionen ihres Umfeldes, sagt die Psychologin Inna Makarenko. „Im Internet ist man anonym. Niemand kennt einen und niemand sieht einen. Das gibt emotionale Sicherheit. Man kann alles erzählen, auch Dinge, die man eigentlich für unangemessen hält“, meint sie.

Ihr zufolge müsse man nicht einmal gläubig sein, um online zu beichten. Gerade Menschen, die einfach nur der Tradition folgen wollen, finden die Online-Beichte oft angenehmer.

Schwarze Schafe

Während sich die meisten Priester freiwillig und aus altruistischen Motiven an der Online-Kirche beteiligen, versuchen andere, Geld damit zu verdienen. Erst kürzlich schloss die russisch-orthodoxe Kirche den Priester Wladimir Golowin von seinem Amt aus. Einem Sprecher der Kirche zufolge habe er online Geld für gemeinsame Gebete eingefordert.

„Die Menschen heute sind leider sehr leichtgläubig und denken oft, dass ein Klick oder ein geteiltes Bild ihre Seele retten könnte“, erzählt der Kirchensprecher. „Andere nutzen dies aus, um ihnen zu schaden.“

Hegumen Luka fügt hinzu, dass das russische Internet voll von Aberglauben sei, der nichts mit der orthodoxen Lehre zu tun hat. „All das sorgt dafür, dass unsere moderne Welt wie verseucht vom Aberglauben ist. Die Menschen sind anfällig dafür, von Gott abzufallen. Diese Sünde geben sie am seltensten zu, auch wenn es die ist, die sie am häufigsten begehen“, fasst er zusammen.

>>> Dieser russische Priester predigt auf YouTube

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