Aigul Achmetschina: Von einem kleinen russischen Dorf auf die großen Bühnen der Welt

Italiana in Algeri

Italiana in Algeri

Andrei Uspenskij
Wie überwindet man Lampenfieber? Wie schafft man es, in einer fremden Stadt zu arbeiten? Noch dazu mit einer unbekannten Sprache? Aigul Achmetschina eroberte die Bühne der Royal Opera in London im Sturm. Russia Beyond erzählt ihre Geschichte.

Mit ihrer seltenen Mezzosopranstimme wurde Aigul Achmetschina die jüngste Teilnehmerin des Jugendprogramms des britischen Royal Opera House im Covent Garden. Ihre Karriere als internationale Star-Opernsängerin scheint vorbestimmt. Einige bezeichnen sie sogar als die neue Anna Netrebko. Aigul trat schon auf den wichtigsten Opernbühnen der Welt auf: In der Deutschen Oper in Berlin, im Teatro Real in Madrid und in einigen Opernhäusern in Italien und Israel. Russia Beyond erzählt sie, wie begeistert sie von der britischen Höflichkeit ist und in Londoner Parks Ruhe findet.

„Was heißt, du wirst nicht singen? Denk nicht einmal dran!“

Meine ersten professionellen Gesangsstunden erhielt ich mit sechs Jahren. Irgendwie hat jeder in meiner Familie eine Stimme, mit der er auch ein großer Sänger werden könnte. Doch trotzdem sind die meisten meiner Verwandten bei der Polizei. Meine Mutter sagte mir immer: „Du musst meine Träume wahr machen.“ Mit 12 Jahren hatte ich mein erstes Konzert im Ausland. Es war in Italien. Ich sang Baschkirische Volkslieder und klassische Arien.

Italiana in Algeri

Ich ging zwar auf die höhere Kunstschule in Ufa, entschied mich aber gegen das Konservatorium. Stattdessen nahm ich weiter Gesangsstunden bei meiner Lehrerin Nailja Jusupowa. Meine Stimme begann sich zu dieser Zeit zu verändern. Nailja und ich übten jeden Tag und sogar der große Delfo Menicucci, Professor am Giuseppe-Verdi-Konservatorium in Mailand, empfahl mir, meine Lehrerin nicht zu wechseln. „Du bist auf dem richtigen Weg, also mach weiter so“, sagte er mir.

Unglücklicherweise verlor ich in diesem Sommer durch einen Unfall meine Stimme. All die Arbeit war verloren. Ich war verzweifelt und dachte daran, nie wieder zu singen und stattdessen, ebenso wie viele meiner Familienmitglieder, Polizistin zu werden. Aber meine Lehrerin richtete mich wieder auf. „Was heißt das, du willst nicht mehr singen? Denk nicht einmal dran.“ Ohne Nailja wäre ich vermutlich nie in London gelandet.

Covent Garden

La Tragedie di Carmen

Beim Opernwettbewerb New Opera World wurde ich von dem Jury-Präsidenten David Gowland entdeckt. Er lud mich ein, im Jugendprogramm der Royal Opera im Covent Garden vorzusingen.

Meine Familie ist nicht sehr wohlhabend, aber ich hatte das Glück, einige Sponsoren zu finden, die es mir ermöglichten, dorthin zu fliegen. Im Flugzeug bekam ich etwas Angst. Als ich all die Sänger und Sängerinnen in der Oper traf, waren diese Sorgen jedoch verschwunden. Es waren insgesamt 365 Teilnehmer, von denen sie die fünf besten auswählten. Ich dachte, ich habe soeben etwas ziemlich Verrücktes getan. Aber am Ende entschieden sie sich für mich. Die nächsten zwei Jahre würde ich also in London verbringen.

Diplome und Qualifikationen sind nicht alles

Traviata

Wir können unseren Stundenplan selbst gestalten. Neben Gesangsunterricht kann man auch Schauspiel, Choreografie und Fremdsprachen lernen. Niemand zwingt uns, einen bestimmten Kurs zu wählen. Die Hierarchien sind hier viel flacher als in Russland. Die Lehrer achten auf unsere Stimme und schätzen ein, ob wir etwas Erholung brauchen.

Zudem scheint man sich hier weniger für Zertifikate und Diplome zu interessieren. Stattdessen achtet man mehr auf die Qualität der Performance und darauf, dass man bereit ist, an sich zu arbeiten und sich zu verbessern.

Ich hatte die Nase voll von der Angst

Dank der Hilfe der Koordinatoren konnte ich mich schnell an das neue Umfeld gewöhnen. Um verstehen zu können, was im Übungsraum gerade vor sich geht, musste ich schnell Englisch lernen. Obwohl wir viele internationale Begriffe benutzen - zum Beispiel italienische Wörter und Phrasen, die jeder Musiker versteht – kämen wir ohne Englisch nicht weit.

Am Anfang hatte ich etwas Angst davor, mit Leuten zu reden. Ich machte mir immer Sorgen, dass mein Handy aus irgendeinem Grund versagte und ich keinen Zugriff auf meinen mobilen Übersetzer haben könnte. Immer, wenn mich jemand fragte: „Wie geht’s dir?“, „Was geht?“ oder „Was machst du gerade?“, bekam ich Panik.

Irgendwann hatte ich dann die Nase voll von der Angst. Ich verstand, dass jeder in seinem eigenen Tempo lernt und dass man Menschen nicht in vorbestimmte Muster pressen darf.

Die zweite Heimat

Covent Garden ist inzwischen zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Es ist meine erste professionelle Oper und ich komme mir hier nicht mehr vor wie eine Besucherin.

Carmen

Auch in der Stadt London fühle ich mich mittlerweile zuhause. Ich habe meine Lieblingsplätze in der Stadt und der Umgebung gefunden, zum Beispiel die Kreidefelsen von Seven Sisters (etwa 120 Kilometer südlich von London) mit ihrer ruhigen und friedlichen Atmosphäre. Oder der Greenwich Park. Von dem Observatorium hat man einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt.

Trotzdem vermisse ich natürlich meine Familie und meine Freunde in Russland. Meine Familienmitglieder können aufgrund ihrer Arbeit nicht ins Ausland reisen und haben mich noch nie auf der Bühne eines großen europäischen Opernhauses gesehen.

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