„Viele Menschen sehen nur Deine Behinderung“: Eine blinde Marathonläuferin erzählt ihre Geschichte

Jekaterina Sykowa
Elena ist 34 und hat nicht nur soeben ihren ersten Halbmarathon absolviert, sie hat auch viele weitere sportliche Ziele. Elena ist blind. Doch das hält sie nicht auf. Sie hofft, dass sie dazu beitragen kann, Vorurteile abzubauen.

Auf ihrem täglichen Arbeitsweg von Moskau nach Troizk (etwa 50 Kilometer entfernt) meidet Elena die Hauptverkehrszeit. Doch das liegt nicht daran, dass sie Angst hat, von den hastenden Menschenmengen umgerannt zu werden. Wenn man Elena die Hand reicht, um sie zum Ausgang zu begleiten, merkt man sofort, dass sie es mit jedem aufnehmen kann. Sie bewegt sich schnell und zielstrebig und wirkt fast wie eine Frau mit Superkräften.

Das hört Elena nicht gerne. Sie stellt sich als Rehabilitationstherapeutin in einem Zentrum für Menschen mit Seh- und Höreinschränkungen vor. Sie zieht einen Sohn groß und hat außerdem gerade ihren ersten Halbmarathon absolviert.

Die ersten 300 Meter in Dunkelheit

„Ich denke, 12 Jahre sind kein schlechtes Alter, um das Augenlicht zu verlieren, sagt Elena mit leiser Stimme und dreht sich jedes Mal um, wenn sie Schritte hört und jemand vorbeiläuft. Wir sitzen in einem gut besuchten Café.

Elena wurde mit zwölf Jahren als Folge einer Netzhautablösung blind. Wie es dazu kam, weiß niemand und auch Heilung gab es nicht.

„Ich hatte in diesem Alter schon einiges gesehen, aber noch keine Vorstellung vom Erwachsenenleben. So konnte ich mich leicht umstellen”, erzählt sie. Sie besuchte weiterhin die Schule und später die philologische Fakultät der orthodoxen Universität. Sie qualifizierte sich zur Masseurin. Viele blinde Menschen wählen diesen Beruf. Außerdem begann Elena mit dem Laufen. Sie nahm am Projekt „Marathon in der Dunkelheit” der Stiftung Sport für Leben teil. Dabei werden die blinden von sehenden Läufern begleitet.

„Vor fünf Jahren begann ich mit dem Training. Zuvor war ich nicht sportlich. Vom Sportunterricht war ich immer befreit. Daher waren die ersten 300 Meter wirklich hart”, erinnert sie sich.  „Mein Puls raste, ich hatte einen hochroten Kopf und war völlig außer Atem.”

Laufen in „Handschellen" und dumme Fragen

Zwei junge Frauen, deren Handgelenke durch ein Gummiband verbunden sind, laufen früh am Morgen durch den Park. Jede hat einen Kopfhörer im Ohr. Sie hören die Beatles.

„Die Moskowiter staunen immer noch, wenn sie uns sehen. Sie laufen hinter uns her und fragen, warum wir Handschellen tragen, ob wir so besser laufen könnten. Manchmal versuchen sie, zwischen uns zu laufen und übersehen dabei das Gummiband. Die meisten kommen gar nicht auf die Idee, dass hier ein blinder Mensch von einem Sehenden beim Joggen geführt wird”, erzählt Elena sichtlich genervt.

Elena läuft nicht nur, sie fährt auch Rad und schwimmt. Dabei unterstützt sie eine Smartwatch. Während ihrer Schwangerschaft pausierte sie das Training. Danach setzte sie sich zum Ziel, ihren ersten Halbmarathon zu laufen. Sie entscheidet sich für eine Veranstaltung in Berlin, so dass sie die Teilnahme einiges kostet und die Versuchung, einen Rückzieher zu machen, nicht so groß ist.

Die ehrgeizigen Ziele des Snorkfräuleins

„Bei Kilometer 19 überkam mich die Müdigkeit”, weiß Elena noch. „Aber unser Freund feuerte mich an, dass es nur noch zwei Kilometer seien und ich es schaffen würde! Das hat mich motiviert, das Ziel zu erreichen.” Nun möchte Elena einen ganzen Marathon laufen, in Berlin oder Paris. Sie findet es viel spannender, zu einem Lauf in eine andere Stadt zu reisen, als abends in eine Bar zu gehen. Sie trainiert zudem für einen Triathlon und eines Tages will sie an einem Radrennen über 1500 Kilometer teilnehmen..

Diese ehrgeizigen Pläne verhindern jedoch nicht, dass Elena immer wieder dumme Fragen beantworten muss. Auch ich habe ihr solche Fragen gestellt: Warum hast Du keinen Blindenhund? Gibt es eine Möglichkeit, das Augenlicht durch eine Operation wiederherzustellen? Wie schaffst Du es, alleine außerhalb Deiner Wohnung zurechtzukommen?

In der U-Bahn wollen ihr andere Menschen helfen, wenn sie bemerken, dass Elena mit dem Smartphone dort sitzt, dessen Display ausgeschaltet ist. Sie fragen dann, ob sie den Knopf zum Einschalten nicht finden könne oder nicht bemerkt habe, dass der Akku leer sei. Dann erklärt sie ihnen, dass sie kein Display brauche, sondern der Sprachassistent ihr alle notwendigen Informationen mitteile. Sie holt ihr iPhone mit den Kopfhörern hervor und macht sich mit geschickten Fingern am Display zu schaffen. Zwei Minuten später habe ich einen Link zu ihrem Account, der „Snorkfräulein” heißt, ein Charakter aus „Mumins”.  Ich bin peinlich berührt, denn daran hat sie mich die ganze Zeit erinnert.

„Ob wir es wollen oder nicht, aber wir schließen immer von einer einzigen Person auf die Gesamtheit. Das passiert besonders oft, wenn es um Behinderungen geht. Wenn wir einen blinden Menschen kennenlernen, der lieber zu Hause bleibt, gehen wir sofort davon aus, dass alle blinden Menschen so sind”, meint Elena. „Viele Menschen sehen nur Deine Behinderung. Das ist in meinem Fall jedoch Zeitverschwendung. Mein Weg führt zu mehr Inklusion in der Gesellschaft und hoffentlich bald auch zu weniger dummen Fragen über das Blindsein”, fasst Elena ihre Meinung zusammen.

>>> Blinder Alltag in Russland

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