Ab welchem Alter lassen russische Familien ihre Kinder Alkohol trinken? (Spoiler: nicht ab 18)

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Sollte Alkohol verboten werden, wo doch ein Verbot fast immer zum Scheitern verurteilt ist? Russische Eltern haben etwas zu diesem Thema zu sagen.

Diana sieht so unschuldig aus. Sie sitzt in einem hell erleuchteten Studio auf dem Sofa und ihre Locken hüpfen jedes Mal, wenn sie den Kopf dreht.

„Mein Name ist Diana. Ich bin 16 und gehe auf das College“, sagt sie. „Ich habe auf dieser Party Wodka getrunken", und der Saal beginnt missbilligend zu murren. Diana übertönt den Lärm des Publikums: „Ein paar Plastikbecher. Und nur fingerbreit eingegossen!“ Auf dieser Party wurde Diana Schurygina in einem gemieteten Ferienhaus 130 km von Uljanowsk entfernt von einem Bekannten ihrer Freundin vergewaltigt – einem 21-jährigen Jungen mit gutem Ruf, der an der Akademie studiert. Das Ermittlungsverfahren bestätigte die Vergewaltigung.

Es war Januar 2017. Die Sendung der beliebten russischen Talkshow „Lasst sie reden“ mit dem Titel Im Getümmel der Party sahen sich auf YouTube 19,5 Millionen Menschen an (insgesamt waren es mehr als 29 Millionen, die sich alle drei Ausgaben zu Schurygina angeschaut haben). So seltsam es auch erscheinen mag, aber die Öffentlichkeit gab Diana die Schuld – wegen ihres „losen Lebenswandels“ und weil sie getrunken hatte.

Jetzt, da wieder einmal darüber diskutiert wird, ob und wenn ja, mit wem und wann Jugendliche trinken dürfen, wird Dianas Geschichte besonders gut in Erinnerung bleiben. Aber die meisten Teenager trinken früher oder später ihren ersten harten Trink. Wie gehen die Eltern damit um?

„Die Hauptsache, etwas dazu essen und nicht durcheinandertrinken“

Laut Umfragen wird in Russland im Durchschnitt im Alter von zwölf bis 13 Jahren zum ersten Mal Alkohol getrunken. Normalerweise passiert das in der Familie, mit den Eltern.

„Ich erinnere mich, dass ich auf einer Familienfeier Wein probieren durfte, als ich acht oder neun Jahre alt war. Da waren die Eltern, die Omas und Opas. Ich bat darum, mich das probieren zu lassen, was alle Erwachsenen trinken, und ich bekam etwas eingegossen. Mit zehn trank ich aus Versehen ein halbes Glas Sekt auf genauso einer Familienfeier und war betrunken. Ich hatte Probleme beim Federballspielen“, erinnert sich die 29-jährige Jelisaweta Solotuchina aus St. Petersburg.

Sie hat eine fünfjährige Tochter, Slata, über die sie viel in ihrem Instagram-Account berichtet. Wenn Slata größer sein wird, lässt sie sie selbst Alkohol probieren. Jelisaweta denkt, dass dies frühestens im Alter von zwölf bis 13 Jahren passieren sollte, aber garantiert nicht erst, wenn sie 18 Jahre alt sein wird und sie in Russland offiziell Alkohol kaufen darf. Sie ist überzeugt, dass die Jugendlichen sowieso nichts davon abgehalten werden können. „Also ist es besser, wenn sie es mit mir das erste Mal versucht“.

„Mein erstes Mal war, als ich 14 oder 15 war. Mein Vater ließ mich Zuhause probieren. Obwohl es mir nicht gefiel, erhielt ich eine ,Einweisungʻ. Man erklärte mir, das Wichtigste sei, etwas dazu zu essen und nicht durcheinanderzutrinken“, sagt Katharina Wenzlauska. Sie wusste, wenn sie etwas trinken wollte, musste sie nur nach Hause kommen und fragen. „Ich bin meinen Eltern jetzt sehr dankbar dafür. Ich weiß, dass viele Teenager, bei denen Alkohol zu Hause kein Tabu war, viel leichter auf Alkohol verzichten können, wenn sie mit Freunden abhängen.“

Aber so sehen das nicht alle. „Wahrscheinlich sind Eltern, die wie ich denken, eine Minderheit“, sagt Jelisaweta. „Aber ich bin dafür, dass man den Kontakt zu den Teenagern nicht verliert.“

Definitiv nein!  

Als die Mutter des 15-jährigen Mädchens auf Facebook postete, dass sie verwirrt sei und nicht wisse, was sie tun soll – ihre Tochter auf eine Party „zu anständigen Kindern“ gehen zu lassen oder nicht –, ergoss sich ein Shitshtorm über sie und ihr wurden zweifelhafte Ratschläge gegeben. Die Mutter wusste nicht, wie sie reagieren soll, kam ihre Tochter doch von sich aus zu ihr und hatte ihr gestanden: „Es wird Alkohol auf der Party geben und ich will trinken – darf ich das?“

Jemand sagte: „Auf gar keinen Fall. Sie ist 15 – sie ist doch noch ein Kind. Du bist für sie verantwortlich. Hast du die Folgen solcher Partys unter Kontrolle?“

Oder der radikalere Ansatz: „Zeig ihr ein paar Videos von jungen Mädchen, die Alkohol probiert und denen ihre Freunde etwas in Glas getropft haben und sie anschließend von einem zum anderen weitergereicht wurde. Sie wurden schwanger und hatten unter psychischen Problemen zu leiden. Das ist wirklich passiert. So ist das Leben!“

Oder der klassische Ratschlag, sich das Kind zu Hause betrinken zu lassen und ihm die Folgen praktisch zu demonstrieren, damit es „eine Abneigung gegen Alkohol entwickelt.“

Im populärsten russischen sozialen Netzwerk VKontakte gibt es Hunderte von Gruppen, in denen man sich zu „Übernachtungspartys“ in der Wohnung von einem der Gruppenmitglieder verabredet. Sowohl Zwölfjährige (wenn sie sich der elterlichen Obhut entziehen können) als auch Erwachsene gehen zu solchen „Übernachtungspartys“.

„Diese Gemeinschaft wurde ausschließlich dafür geschaffen, um sich mit dem vertraut zu machen, was auf Feten, Treffen und Übernachtungspartys läuft“, lautet die Beschreibung der Gruppe. Tausende von Bildern von betrunkenen Schülerinnen in Unterwäsche auf Homepartys. Einige davon sind ohne deren Zustimmung geknipst wurden. Erwachsene gibt es auf solchen Partys natürlich nicht. Aber sie bekommen manchmal von diesen Partys etwas mit:

„Was ist, wenn deine betrunkenes Kind von jemanden fotografiert und das Foto in die Gruppe ,Übernachtungspartysʻ gepostet wird? Dann wird die ganze Schule sie schief anschauen und sagen: ,Das ist doch die Schlampe aus dem Internetʻ. Seid ihr denn noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen?“, richtet sich Olga Sjutkina, eine Lehrerin aus St. Petersburg, an diejenigen, die glauben, dass eine „starke und vertrauensvolle“ Beziehung zum Kind wichtiger ist als Verbote.

Ja, es sieht so aus, als ob die Eltern in Russland – wie die Eltern auf der ganzen Welt – nicht immer wissen, was sie mit ihren heranwachsenden Kindern machen sollen. Sie haben aber das Gefühl, etwas tun müssen. Funktioniert das? Manchmal ja, manchmal nein. Und wenn, dann nicht immer so, wie man es erwartet.

„Ich war 16, als ich meine Eltern bat, mich zu meinem Freund und dessen Kumpels zur Silvesterparty gehen zu lassen, 46 Kilometer entfernt“, sagt Marina, eine Studentin. „Meine Eltern gestatteten es mir nicht, aber sie ließen mich zu meiner Freundin gehen. Sie wohnte nebenan. Ich trank mir mit ihr zusammen Mut an, rief ein Taxi und fuhr zu meinem Freund. Mitten in der Nacht, 1:00 Uhr morgens. War das etwa sicherer als bei Tageslicht mit dem Zug zu fahren, wie ich es vorhatte?“

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