Für einige Moskauer sind vier Stunden Pendeln am Tag normal. Und es geht um Menschen, die innerhalb des Stadtgebiets leben. In einigen Vorstädten sind auch noch längere Pendelzeiten allgegenwärtig.
Jede Minute zählt
Mein Weg zur Arbeit sieht in der Regel so aus: Um acht Uhr verlasse ich meine Wohnung und gehe etwa sieben Minuten zur nächsten Bushaltestelle. Mit dem Bus fahre ich dann fünf-zehn Minuten zu einer Metrostation, von der aus ich noch etwa eine halbe Stunde zur Arbeit brauche. Von der Metro bis zum Büro dauert es dann eine Minute.
Ich lebe in Ismailowo, dem zentrumsnächsten der sogenannten „Randbezirke“ (so werden die Bezirke bezeichnet, die direkt an den Grenzen der Stadt liegen). Insbesondere bei der Mittelschicht ist Ismailowo sehr beliebt. Daher ist der Ort eine Hölle für alle Autofahrer. Mit dem Auto braucht man von hier aus etwa 2 Stunden in die Innenstadt. Also nimmt man, wie die meisten Moskauer, die Metro. Doch auch die ist meistens völlig überfüllt. Also steht man irgendwo zwischen einem stark schwitzenden, übergewichtigen Mann mittleren Alters und einer jungen Frau, deren Haare einem im Gesicht kitzeln. Die Angst aus Sauerstoffmangel ohnmächtig zu werden, ist durchaus berechtigt. Andererseits ist jedoch schlicht kein Platz zum Umfallen.
Über 12 Millionen Menschen leben in Moskau. Sieben Millionen davon (rus) sind berufstätig. Doch das ist nicht alles: Neben den Moskauern selbst kommen jeden Tag auch noch zwischen 0,9 und 1,2 Millionen Pendler von außerhalb der Stadtgrenzen dazu. Menschen aus Vororten, die mehr als 50 Kilometer von Moskau entfernt sind, zieht die russische Hauptstadt an.
Insgesamt gibt es also jeden Tag mehrere Millionen Pendler. So fahren zum Beispiel allein 9 Millionen Menschen pro Tag mit der Metro. Daher muss die U-Bahn wie ein Uhrwerk funktionieren. Selbst eine kleine Verzögerung von zehn Sekunden kann am Ende der Linie in einer Verspätung von fünf Minuten (rus) resultieren.
Sprachen lernen am Steuer
Darja Fjodorowa, 24, lebt in Domodedowo, direkt außerhalb der Stadtgrenzen. Sie sagt, sie verbringe jeden Tag mehr als vier Stunden (rus) in ihrem Auto. Auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wäre sie nicht schneller. Der einzige Vorteil sei es, dass sie dort mehr Zeit habe, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Darja gibt zu, sich im Auto zu schminken und mit einem Hörbuch Spanisch zu lernen. Solche Ablenkungen führen zu zahlreichen kleineren Verkehrsunfällen, die für zusätzliche Staus sorgen.
Vor einigen Jahren wurde ein Mann aus dem Süden der Stadt als Superheld von Butowo (rus) bekannt. Mit seinem Hyundai Santa Fe blockierte er jeden Morgen die Zufahrten zu den Busspuren und sorgte so dafür, dass niemand illegalerweise darauf fahren konnte. Durch diesen Einsatz kamen die Busse schneller durch den Verkehr und der Mann wurde zu einer lokalen Berühmtheit. Natürlich verschwendete er in gewisser Weise Zeit. Andererseits hätte er aber sowieso im Stau gestanden.
Elena, 35, Drehbuchautorin aus dem Vorort Lytkarino, arbeitet von Zuhause aus. Die alleinerziehende Mutter kann so besser auf ihren Sohn achten und erspart sich die anstrengende Pendelei. „Es gibt keinen Bahnhof, sondern nur eine zweispurige, fünf Kilometer lange Straße durch den Wald. Morgens ist dort immer Stau. Die Fahrt verlängert sich dadurch von 20 Minuten auf 2 Stunden. Wenn es auf der Autobahn nach Moskau dann noch einen Unfall gibt, kann es von hier bis ins Stadtzentrum auch mal vier Stunden dauern. Inzwischen bauen sie eine neue Straße, um die Fahrtzeit zu verkürzen. Wenn im Sommer aber auch noch alle auf ihre Datschen rausfahren, dauert es trotzdem über eine Stunde von Moskau nach Lytkarino.“
Eine weitere Ursache für Moskaus Staus sind Eltern, die ihre Kinder zur Schule bringen. Zu Sowjetzeiten war dies völlig unüblich. „In meiner Generation fuhr niemand mit dem Auto zur Schule“, sagt Tatjana, 61. „Natürlich gab es auch damals schon Perverse und Entführer, aber Moskau galt immer noch als sehr sicher. Daher wurde in der Regel abgesprochen, dass die Kinder in kleinen Gruppen zur Schule gingen. Ich fuhr zum Beispiel eine Haltestelle mit dem Bus und ging dann ein Stück zu Fuß. Auf dem Rückweg dasselbe Spiel. Nur einmal, als es einen großen Schneesturm gab, holte mich meine Großmutter mit einem Schal und warmen Stiefeln ab. Unsere Eltern waren ja eigentlich immer arbeiten, weswegen uns niemand zur Schule bringen konnte. Daher waren wir gewohnt, alleine dorthin zu gehen. Als ich dann in den 80ern und 90ern selber Kinder bekam, waren unsere Bezirke gefährlicher geworden und wir gewöhnten uns an, unsere Kinder selbst zur Schule zu bringen.“
Wieder Laufen?
Ende der 2000er war das Verkehrsproblem in Moskau dann so groß, dass die Behörden so schnell wie möglich handeln mussten. Das Metronetz wuchs um über 60 neue Stationen und 2016 wurde auch ein S-Bahn-Ring eröffnet. Bis 2023 will die Stadt 55 weitere Metrostationen (rus) eröffnen.
Generell kann man sagen, dass der Nahverkehr in Moskau einen großen Schritt nach vorn gemacht hat. Selbst Moskauer sind fasziniert davon, wie schnell sich die Stadt verändert. Doch die Verkehrsprobleme bleiben.
Diesen Winter gab es im Metronetz einige Renovierungsarbeiten. Tagelang wurden die Züge durch Busse ersetzt, was auf den entsprechenden Linien zu Chaos führte. Glücklicherweise erledigte man die Arbeiten nach und nach und nicht gleichzeitig. In meinem Viertel entstehen gerade zahlreiche neue Wohnungen. Das bedeutet, dass noch mehr Menschen und noch mehr Autos kommen werden.
Ich selbst habe mein Auto schon vor drei Jahren verkauft. Seit letztem Jahr gehe ich auch öfter zu Fuß direkt zur Metrostation. Die Busse sind ohnehin viel zu voll und ich brauche auch zu Fuß bloß 15 Minuten. So ist es auch viel gesünder!