Im Sprachwandel: Nennen sich die Russen heute immer noch „Genosse“?

Sputnik
In Hollywood-Filmen sprechen sich sowjetische Bösewichte gerne mit „Genosse“ an. Im Russischen heißt es „Towarischtsch”. Was heißt das Wort und wie wurde es zur sowjetischen Standard-Anrede?

Nach der Revolution 1917 wurden die alten, im zaristischen Russland verwendeten Anreden obsolet. Tatsächlich war das damalige Anredesystem relativ kompliziert. Adelige, Staatsdiener, Offiziere, angesehene Kaufleute und Priester hatten alle ihre eigene Anrede. Die Verwendung einer nicht standesgemäßen Anrede galt als respektlos.

Einfache Leute, sowohl in den Städten als auch auf dem Land, hatten dagegen keine eigene Anrede. Die Ungleichheit in der damaligen russischen Gesellschaft manifestierte sich also auch sprachlich, weswegen die Bolschewiki das System nach der Revolution so schnell wie möglich ändern wollten. 

Revolutionen verändern die Sprache

Nachdem der Adel nach der französischen Revolution 1789 abgeschafft wurde, erfanden die Franzosen eine neue Form der Anrede: Bürger. Selbst der ehemalige König wurde nun als „Bürger Louis Capet“ angesprochen. 

Der Sowjetregierung erschien das Wort Bürger (Graschdanin) dagegen nicht geeignet. Zu sehr stand es für die bürgerliche, liberale Demokratie, die in der französischen Revolution erkämpft wurde. Die Sowjets wollten jedoch eine komplett andere Gesellschaftsform: Den Sozialismus. Daher das Wort Genosse

„Ihre Lampe, Towarischtsch Ingenieur! Es ist für sowjetische Fachleute eine Frage der Ehre, ihre Erfahrungen und ihr Wissen der sozialistischen Industrie zu widmen. Aus dem Büro in die Miene!“

Als die sozialistische Idee in Deutschland entstand, benutzten die ersten Sozialisten zunächst das Wort Kamerad. Dieses stammt von dem lateinischen Wort „camarada” ab, das so viel wie „Zimmergenosse“ bedeutete und ursprünglich im studentischen Kontext benutzt wurde. 

Nach den Revolutionen im Jahre 1848 entwickelte sich „Kamerad“ (oder „Genosse“) in ganz Europa zu einer freundschaftlichen Anrede unter sozialistisch gesinnten Bürgern. Nur in Russland benutzte man eine abgewandelte Version: Towarischtsch

Handelspartner 

Das Wort „Towarischtsch” hieß ursprünglich nicht „Freund“, sondern „Geschäftspartner“ und kommt von der Wurzel „Towar“ (Güter). Ein „Towarischtsch“ war jemand, mit dem man Güter handelte. Das Wort war also ursprünglich geschäftlich konnotiert. Später übernahmen die Kosaken das Wort und redeten sich untereinander mit „Towarischtsch“ an. Auch im Beamtentum wurde das Wort benutzt: Ein MinisterialTowarischtsch entsprach in etwa einem Staatssekretär.  

„Unsere Ziele sind klar, die Aufgaben stehen fest. An die Arbeit, Towarischtschi!”

Nach der Revolution übernahmen die Bolschewiki die Anrede zunächst nur für Anhänger der kommunistischen Idee. Nicht-Kommunisten wurden wie einst in Frankreich mit „Bürger“ angesprochen. Aus Zar Nikolaus II. wurde zum Beispiel „Bürger Nikolaus Romanow“, ein „Towarischtsch“ konnte er ja schon durch seine Herkunft nicht sein. 

So kam es, dass der Satz „Du bist kein Towarischtsch für uns“ in der frühen Sowjetunion zu einer schweren Beleidigung wurde. Während des stalinistischen Terrors der 1930er-Jahre war der Satz, aufgrund des impliziten Vorwurfes, ein Feind des Kommunismus‘ zu sein, dann sogar ein so gut wie sicheres Todesurteil.  

Towarischtsch oder Bürger? 

In Gerichtsverhandlungen wurde dementsprechend ebenfalls das Wort „Bürger“ benutzt. Wer sich einer Straftat schuldig gemacht hatte, konnte in den Augen der Sowjets kein Towarischtsch mehr sein. 

Die weibliche Form „Towarka“ wurde dagegen schnell obsolet. Frauen wurden mit der männlichen Form angesprochen, das Geschlecht erkennt man im Russischen ohnehin an der Endung des Nachnamens. Towarischtsch Iwanowa war zum Beispiel eine Frau, Towarischtsch Iwanow ein Mann. 

„Humanistische Einstellung und gegenseitiger Respekt: ein Mensch ist für einen anderen Menschen Freund, Towarischtsch und Bruder!“

Sogar im sowjetischen Militär (und später noch in den Armeen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine) wurde die Anrede Towarischtsch zu einer offiziellen Respektsform. Vorgesetzte bezeichneten Untergebene entweder mit Rang und Nachnamen oder mit Towarischtsch und Rang (z.B. „Kapitän Petrow” oder „Towarischtsch Kapitän”). Soldaten mit niedrigeren Rängen mussten ihre Vorgesetzten dagegen immer mit Towarischtsch und der Rangbezeichnung anreden („Towarischtsch Oberst“). 

Auch die Staats- und Parteichefs der Sowjetunion wurden in offiziellen Verlautbarungen als „Towarischtsch“ bezeichnet („Towarischtsch Stalin”, „Towarischtsch Breschnew”).

Towarischtsch Breschnew

Wie sieht es heute aus? 

Im heutigen Russland gibt es keine offiziell vorgeschriebene Anrede mehr. Zu formellen Anlässen benutzt man die vorrevolutionären Anreden „Gospodin” (Herr) oder „Gosposcha“ (Frau). 

Das Wort „Graschdanin“ (Bürger) ist dagegen immer noch sehr offiziell und sogar etwas negativ konnotiert – ein Überbleibsel aus Sowjetzeiten.

„Towarischtsch“ wird dagegen hauptsächlich ironisch verwendet. Um über Bekannte zu reden, benutzen Russen heute eher „Prijatel“ (Kumpel) oder „Snakomij“ (Bekanntschaft). Ein Russe, der jemanden als „Towarischtsch“ anspricht, versucht dagegen höchstwahrscheinlich einen Streit oder eine schwierige Situation spielerisch zu beruhigen. 

So spricht man „Towarischtsch“ aus:

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