Zwischen den Weltreligionen: Die letzten Heiden der Tschuwaschen

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ANNA SOROKINA
Im Herzen der Republik Tatarstan, einer vorwiegend muslimischen Region an der Wolga, befindet sich ein kleines Tschuwaschendorf, das von Heiden bewohnt ist. Sie haben sich Christianisierung und Islamisierung widersetzt. Bis heute halten sie an uralten Ritualen fest, auch Tiere opfern sie. Wir haben sie getroffen.

Wir erreichen früh um zehn vor sechs Staroje Surkino. Wir wollen uns den Utschuk anschauen, ein Opferritual. Bewohner und Besucher versammeln sich auf einem Feld außerhalb des Dorfes, um ihren höchsten Gott Tura um Wohlstand zu bitten und ihm ein Tier als Gabe zu opfern. Ich weiß, dass die Zeremonie damit enden wird, dass das Opfertier, ein Bulle, gegessen wird. Der Gedanke daran lässt mir die Haare zu Berge stehen. 

Der erste, der auftaucht, ist Petja, ein kräftig gebauter Mann von ungefähr 50 Jahren. Er ist einer von denen, die den Stier schlachten werden. Er macht das nicht zum ersten Mal und wirkt sehr gelassen. Ihm folgen weitere Männer und Frauen, die die traditionelle tschuwaschische Tracht tragen. Der Bulle wird herausgebracht und an den Zaun gebunden, um ein letztes Mal Gras zu fressen. 

In der Zwischenzeit schärft Petja die Klingen. Die Frauen gießen Kwas aus Rote-Bete in ein Glas, nehmen ein Jusman, ein rituelles Fladenbrot, und lassen sich auf einem Feld am Fluss nieder, wo der Utschuk stattfinden wird. Bevor der Stier getötet wird, sprechen die Frauen ein Gebet und besprühen das Tier mit frischem Wasser.

Außer uns sind noch rund ein Dutzend Zuschauer da. „Sag mir, wenn es vorbei ist”, bittet mich eine gepflegte ältere Dame mit Brille und dreht sich weg. Sinaida Woronowa arbeitet an der Kulturuniversität in Tscheboksary, der Hauptstadt von Tschuwaschien. Sie und ihre Kollegen sind gekommen, um die örtlichen Bräuche kennenzulernen. Hinschauen möchte sie nicht, so etwas sei sie nicht gewohnt.

Woronowa stammt aus einer Familie von christlichen Tschuwaschen. „Wir alle wissen von diesen Riten, aber wir haben ihnen nie viel Beachtung geschenkt”, sagt sie. In Tatarstan gibt es verschiedene heidnische Gemeinschaften. Die Mehrheit lebt hier in Staroje Surkino. 

„In unserer Familie ist keiner getauft

Die Tschuwaschen zogen im 17. Jahrhundert aus der Nähe von Kasan hierher, auf der Flucht vor dem Christentum und dem Islam. Die Tschuwaschen und Tataren sind Turkvölker. Die Tataren wandten sich dem Islam zu, die Mehrheit der Tschuwaschen wurde russisch-orthodox christianisiert. Einigen gelang es jedoch, sich in abgelegene kleine Dörfer zurückzuziehen und ihr Heidentum zu bewahren.  

Die höchste Gottheit ist ein gütiger Gott namens Tura (was auf Tschuwaschisch „Himmel“ oder „Gott“ bedeutet). Sein Gegenspieler ist Schuittan (zu Deutsch: „der Teufel). Sie glauben, dass alles, was lebendig ist, eine Seele hat und dass es eine Gottheit gibt, die über die Menschen und ihr Handeln wacht.

Das Dorf Staroje Surkino wurde nach seinem ersten Siedler Serke benannt. Es ist von dichten Wäldern umgeben und auch heute noch nicht so leicht zu erreichen: Die nächstgelegene Stadt Almetjewsk ist etwa 20 km entfernt, und Tschuwaschien ist weiter von hier entfernt als Baschkortostan, eine andere muslimische Republik.

In Staroje Surkino leben etwa 1.500 Menschen in soliden Neubauten. Es gibt einen Kindergarten und eine Schule. Die Einheimischen sprechen Tschuwaschisch und Russisch. Wenn sie nicht ihre Rituale durchführen, sind sie wie jeder andere auch. Sie surfen im Internet, schauen Fernsehserien, fahren Auto, arbeiten im Büro.

Hinter dem Dorf gibt es drei Friedhöfe: einen für Christen, einen für Muslime und den größten und ältesten für die Heiden. Anstelle von Grabsteinen gibt es Pfeiler, die Julas, für Männer aus Eichenholz und aus Lindenholz für Frauen. Die Holzpfeiler werden später durch Steinpfeiler ersetzt (dieses Ritual findet einmal jährlich im November statt).

Es gab und gibt keine Kirchen im Dorf und auch keine Priester. Entscheidungen trifft ein Ältestenrat.  „Wir beten dort, wo wir gerade stehen”, erzählt Galina Timerbajewna Bikbowa, eine der Dorfältesten, die nach dem Beten zu uns kommt. Sie verteilt Kwas und Jusman, „damit der Gott unser Opfer annimmt".

Während die Männer den Bullen zerteilen, entzünden die Frauen ein Dutzend Lagerfeuer, um den Opferbrei „Utschuk pata zuzubereiten. Er besteht aus drei Getreidesorten: Buchweizen, Reis und Hirse. Er wird auch „Haferbrei der Freundschaft” genannt. Die letzte Zutat, die in die Kessel kommt, ist das Fleisch des Bullen.

Die Dorfbewohner glauben, dass die Zeremonie sie vor dem Bösen schützen wird. „Vor kurzem gab es einen Hurrikan in Almetjewsk. In Selenogorsk wurden die Dächer abgedeckt. Hier wehte für fünf Minuten ein lauer Wind und das war es. Wir haben Gott gedankt, dass er uns beschützt hat”, sagt Galina Timerbajewna. 

Sie unterrichtete 45 Jahre lang Russisch in der Schule, ist jetzt im Ruhestand und kümmert sich um ihre neun Enkelkinder. Sie alle sind Heiden.

„Keiner in unserer Familie wurde getauft. Wäre es Gottes Wille gewesen, dass ich getauft werde, hätte er mich in eine Familie von Getauften geschickt. Warum sollte ich mich also gegen meinen Glauben stellen?” Zum fünften Mal nimmt sie an der Zeremonie teil. Zuvor hat sie sich um organisatorische Angelegenheiten gekümmert.

„Als ich jung war, war ich eine Komsomol-Aktivistin und habe diese Rituale abgelehnt“, erzählt Galina Timerbajewna. „Doch tief im Inneren war der Glaube immer da.”  Sie erinnert sich, dass es all diese Rituale bereits zu Sowjetzeiten in Staroje Surkino gab. Hochzeiten, Beerdigungen, Jahrmärkte und die Zeremonie auf dem Feld. Die örtlichen Behörden mischten sich nicht ein. Sie lebten diese Traditionen selbst.  

„Das ist keine Religion sondern eine Weltanschauung” 

Die Männer, die den Bullen geschlachtet haben, ziehen sich um. Sie tragen nun Anzug und werden gleich eine Delegation der Bezirksverwaltung begrüßen. Um zehn Uhr morgens sind bereits mehrere hundert Menschen auf dem Feld versammelt. Volksmusikgruppen werden alte traditionelle Lieder vortragen, Zelte werden aufgebaut, um traditionelles Handwerk zu präsentieren, und allen Gästen wird der Brei serviert.  

Ein sportlicher Mann, der ein Hemd mit volkstümlichen Stickereien trägt, stellt sich als Nikolai vor. Dies ist der Name, der in seinem Pass steht, aber jeder hier nennt ihn Migous. Es ist üblich, dass viele Tschuwaschen zwei Namen haben.

Migous ist 54, Bildhauer und ist aus Tscheboksary hierhergekommen, um die Traditionen seines Volkes kennenzulernen. Er wurde als Kind getauft, wandte sich jedoch später im Leben wieder dem traditionellen tschuwaschischen Glauben zu.

„An der Universität haben wir uns mit verschiedenen Religionen befasst und damals wurde mir klar, dass das nichts für mich ist. Meine Taufe war eine Formalität. Sagen wir mal, meine Eltern dachten nicht wirklich darüber nach, was sie taten. Auch meine beiden erwachsenen Söhne haben beschlossen, unsere Traditionen zu studieren. Schließlich glauben wir nicht an eine Religion, sondern an eine bestimmte Weltanschauung.”

Er ist überzeugt, dass selbst getaufte Tschuwaschen tief im Inneren nur auf Tura vertrauen. Galina Timerbajewna erklärt, dass es leider immer weniger heidnische Tschuwaschen gibt. „Unter Jugendlichen ist es modern, sich taufen zu lassen. Es kann sein, dass wir die letzten Heiden sein werden.” 

Noch vor 10 Jahren wurden nur fünf Prozent der Dorfbevölkerung getauft, inzwischen sind es 20 Prozent. 

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