Alisa trägt Glatze: Leben mit krankhaftem Haarausfall

Alisa

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Aus dem persönlichen Archiv
Im Alter von sieben Jahren verlor Alisa all ihre Haare, an Kopf und Körper. Es hat lange gedauert, bis sie sich so akzeptieren und selbst lieben konnte.

„Was ist schon dabei, keine Haare zu haben? Es ist schließlich keine Behinderung”, könnte man sagen. Doch gerade für Frauen kann es eine große Belastung darstellen, keine Kopfhaare zu haben.

Ein 15-jähriges Mädchen schwimmt im warmen Wasser des Schwarzen Meeres, immer weiter weg vom Ufer. Plötzlich ändert sich das Wetter und Wellen schlagen über ihrem Kopf zusammen. Sie müsste nur schwimmen, mit kräftigen Zügen beider Arme, doch das geht nicht, denn sie umklammert mit einer Hand ihren wertvollsten Besitz – eine Perücke.

„Ich hätte untergehen und ertrinken können, doch daran dachte ich gar nicht. Ich schwamm einarmig zurück und hielt meine Perücke ganz fest. Ich war mit Freunden meiner Eltern im Urlaub. Sie haben um mein Leben gefürchtet”, erzählt Alisa von diesem Vorfall im Jahr 2006.

Inzwischen ist Alisa 28 Jahre alt. Sie arbeitet als Verkaufsassistentin. Heute kann sie nicht mehr verstehen, warum ihr die Perücke damals wichtiger war, als ihr Leben. Alisa hat Alopezie, krankhaften Haarausfall am ganzen Körper, einschließlich der Augenbrauen und Wimpern. Alopezie ist nicht heilbar. 

Heute wagt sich Alisa das erste Mal ohne Perücke auf die Straßen der russischen Hauptstadt. Gemeinsam mit anderen betroffenen Frauen sitzt sie in einem Moskauer Café. Passanten  drehen sich nach ihnen um und auch der Kellner scheint verwirrt, ständig verwechselt er die Bestellungen. Alisa wirkt angespannt, aber glücklich, wenn auch mehr angespannt als glücklich. 

Mobbing 

Alisa entdeckte die erste kahle Stelle auf ihrem Kopf am 1. September, als sie sieben Jahre alt war. Ihre Mutter hat ihr für den ersten Schultag die Haare geflochten. Zu der Zeit lebte sie mit ihren Eltern in der Stadt Wolschsky im Wolgograder Gebiet.

„Jeden Tag wurde die kahle Stelle größer und auch an anderen Stellen fielen die Haare aus. Meine Mutter versuchte, sie zu überdecken, doch im Sommer darauf hatte ich kaum noch Haare”, erinnert sich Alisa.

Die Sommerferien verbrachte sie mit ihrem Bruder bei den Großeltern auf dem Land. Der Großvater entschied sich, der Sache ein Ende zu bereiten und ging mit Alisa zum Friseur. „Ich war 8 Jahre alt, blickte in einen Spiegel und sah einen alten Mann hinter mir stehen, der mir die restlichen Haare abrasierte”, erzählt die junge Frau. 

Ihre Mutter kaufte ihr eine Perücke. In der Schule waren alle, einschließlich der Lehrer, sehr neugierig auf ihre neue Frisur. Auf dem Schulflur riefen ihr die Kinder oft hinterher: „Da kommt das Mädchen mit der Perücke.”

Bald trug Alisa statt Perücke ein Kopftuch, doch das machte es nicht besser. Alisa litt zudem aufgrund von Stress an einer hormonellen Störung, nahm dadurch zu und ihre Stimme wurde sehr leise.

Im Alter von 11 Jahren besuchte Alisa ein Ferienlager. Die anderen Kinder drohten ihr, sie zu verprügeln. Einmal riss ihr ein Junge das Kopftuch herunter, angeblich aus Versehen beim Spiel. „Ich bin einfach weggerannt, so weit weg wie ich konnte. Irgendwann fiel ich vor Erschöpfung, vor Wut und Hilflosigkeit einfach zu Boden”, berichtet Alisa.

Zwei Tage danach verließ Alisa das Ferienlager. Erst später erfuhr sie von Freundinnen, dass die Jungen immer wieder gefragt hatten, wann sie wiederkommen würde und dass sich einer von ihnen sogar in sie verliebt hatte.

Haare machen nicht die Schönheit aus 

Trotz ihrer Erkrankung hatte Alisa ihren ersten Freund schon mit 15. Sie legte sofort die Karten auf den Tisch und erzählte ihm von der Alopezie. Doch mit Glatze zeigte sie sich ihm erst nach zwei Jahren.

„Erst jetzt bin ich so weit, auch ohne Perücke auszugehen. Wenn ich sie trage, ist das wie Selbstverleugnung. Sofort habe ich Angst, sonst nicht gemocht zu werden, ich will von allen anerkannt werden. Ich war das Leid”, erklärt Alisa.

Sie weiß nicht mehr, wie ihr Freund damals reagiert hat, nur noch, dass er gelächelt hat. Doch er brauchte eine lange Zeit, um sie letztlich so zu akzeptieren wie sie war. Die Beziehung dauerte 12 Jahre, bis Alisa nach Moskau ging, um dort zu arbeiten. Sie halten noch immer Kontakt, telefonisch.

„Ich habe erkannt, dass ein Mann eine Frau motivieren kann, sich so zu akzeptieren, wie sie ist. Und in Moskau sagen mir viele Leute offen, dass es ihnen egal ist, ob ich Haare habe oder nicht.

In Moskau fand sie rasch einen Freund, der ihr half, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden und ihr mittlerweile von allen am nächsten steht. Zuvor war sie oft genervt, weil sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog und diese über sie redeten. Doch der Freund half ihr, sich selbst zu akzeptieren.

„Viele betrachten die Haare einer Frau als Ausdruck ihrer Schönheit. Aber wenn man keine Haare hat, wo liegt die Schönheit dann?”, fragt Alisa und weiß die Antwort: „Es ist Deine Persönlichkeit, Deine Ausstrahlung und die Freude an den Dingen, die Du tust.”  

Selbsthilfe und Selbstbewusstsein 

Eine Perücke kann immerzu verrutschen. Zum Beispiel, wenn Sie aus einem Auto steigen oder im Liegewagen im Zug unterwegs sind.

Die 43-jährige Marina Solotowa kannte sich aus mit Perücken, wusste, wie sie fest sitzen bleiben und wie man sich damit pflegt. Auf langen Geschäftsreisen hielt sie ihren Kopf unter kaltes Wasser, denn nach langer Tragezeit verursachte die Perücke eine wunde und juckende Kopfhaut.

Marina Solotowa

Solotowa hat beschlossen, anderen Frauen zu helfen, sich mit ihrer Krankheit nicht zu verstecken und selbst zu verleugnen. 2014 hat sie die Online-Community „Alopetjanka” gegründet. Auf dieser Website tauschen Frauen mit Alopezie ihre persönlichen Geschichten aus, können miteinander chatten, bekommen Adressen für Kosmetikerinnen oder von Fotografen, um schöne Fotos von sich machen zu lassen.

Die Frauen von „Alopetjanka“ halten bei Unternehmen Vorträge gegen Mobbing. „Uns ist wichtig, offen mit der Erkrankung umzugehen. Meine letzte Perücke habe ich 2014 gekauft. Sie hat über 1.000 Euro gekostet. Ich habe mir damals geschworen, dass es in meinem Leben keine Perücken mehr geben wird! Es ist doch niemand perfekt. Selbst die schönsten Frauen finden noch Fehler an sich”, sagt Marina Solotowa. 

„All meine Ängste und Sorgen sind für mich Geschichte”, erklärt inzwischen auch Alisa. „Ich habe gelernt, mich selbst zu lieben und mich nicht minderwertig oder unterlegen zu fühlen. Das ist das Wichtigste.” 

Heute fährt sie zusammen mit anderen Alopetjanka-Frauen zum ersten Mal mit der Metro – ohne Perücke. Sie wirkt angespannt aber glücklich. Mehr glücklich als angespannt. 

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