Meinung: Gibt es ein russisches Pendant zum „American Dream“?

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GEORGI MANAJEW
„The American Dream“, der „amerikanische Traum” ist wohl jedem ein Begriff. Gibt es das auch in Russland? Etwas, wonach alle streben, zum eigenen und zum Wohl des Staates?

Als wir das Thema eines „russischen Traums“ in der „Russia Beyond“-Redaktion diskutiert haben, wurde schnell klar, dass wir alle darunter etwas ähnliches verstehen. Lesen Sie, wie unterschiedlich es dennoch von diesen drei Redakteuren erklärt wird.  

1. Georg, 34 

„Alle russischen Staatsbürger werden drei Jahre Urlaub auf den Kanaren machen!“. Dieser Satz aus der Filmkomödie „What a mess „Shirly-Mirly“ über die Ära der Post-Perestroika drückt auf witzige Weise den „russischen Traum” aus. Lucienne, die Ehefrau eines der Protagonisten des Films sieht es dagegen nüchtern: „Was interessieren mich die Kanaren. Ich muss noch Wäsche waschen.“

Dieser kurze Dialog charakterisiert das Thema „Was ist der russische Traum“ für mich sehr treffend. Es ist der Wunsch nach etwas Großartigem und Wunderbaren, doch, sobald die Realisierung in greifbare Nähe rückt, finden sich tausend Gründe, etwas anderes zu machen und es gibt viele Fragen: Ist es denn wirklich so viel schöner auf den Kanaren? Was kann man dort tun? Was ist nach diesen drei Jahren? Geht es dann zurück in die Heimat?

Die russischen Leibeigenen träumten jahrhundertelang von der Freiheit. Sie probten den Aufstand und übten Protest. Einige töteten ihre Herren. Sie kämpften für eine Gesetzesänderung. 30 Jahre nach der Abschaffung der Leibeigenschaft hatten rund neun Millionen ehemalige Leibeigene jedoch noch immer die Arbeitsmoral von … Leibeigenen. Sie arbeiteten trotz der neuen Freiheit nicht effektiv. Wer dagegen abhängig beschäftigt war, der wurde durch Geld oder Strafen motiviert, sein Pensum zu schaffen. Die ehemaligen Abhängigen waren nun für sich selbst verantwortlich. Sie taten weiter nur das Nötigste wie damals, als sie noch einen Fronherren hatten, und erkannten nicht, dass sie sich mit ihrer Faulheit nur noch selbst schadeten. 

Der Russe braucht zwar einen scheinbar unerreichbaren Traum, doch kurz, bevor er ihn umsetzen kann, erscheint er gar nicht mehr so fantastisch oder erstrebenswert. Vielleicht, weil man arbeiten muss, um Ergebnisse zu erzielen? Das ist eine unangenehme Nebenwirkung, oder? Zum Glück gibt es immer irgendwo eine Russin, die mit solchen Träumereien nichts anfangen kann, mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen bleibt und sagt: „Hör auf zu träumen und geh arbeiten! Die Kinder brauchen etwas zu essen!“ 

2. Wiktoria, 23

Meiner Meinung nach haben die Russen immer mehr von kleinen und erreichbaren Dingen geträumt: einen Hund adoptieren, einmal ins Ausland reisen, ein kleines Haus auf dem Land kaufen usw. Doch auch diese kleinen Träume bleiben aus den folgenden Gründen oft unerfüllt: Geldmangel und wenig Bereitschaft zur Veränderung.

Ich habe ein paar Freunde, die diesen Traum vom Lebensabend im Landhaus mit Hund haben. Doch sie tun nichts, um dorthin zu kommen. Sie finden immer tausend Gründe dagegen. „Ich brauche eine neue Stelle, um mehr Geld zu verdienen. Was ist, wenn die neue Arbeit weit weg ist von zu Hause? Wie werden die Kollegen dort sein? Also lasse ich lieber gleich alles sein.

Die Mehrheit der Russen will ihre Komfortzone nicht einmal verlassen, um etwas zu erreichen, was gar nicht so weit entfernt ist. Im Jahr 2018 sind zum Beispiel nach einer aktuellen Umfrage nur sechs Prozent der Russen in Urlaub ins Ausland gefahren. Könnte es sein, dass der russische Traum genau das ist: Es zu schaffen, sich vom Sofa zu erheben und den ersten Schritt zu tun?

3. Daniel, 34

Wenn ich die Worte „russischer Traum“ höre, ist es schwer, mich von dem modernen Konzept des „American Dream” zu lösen. Ich denke, dies geschieht, weil es in diesem Land (den USA) erstmals  gelungen ist, den Wohlstand eines Landes am Maß an persönlicher Freiheit und dem Wunsch, sich persönlich zu bereichern, zu messen. Der Wunsch nach Besitz ist etwas, was dort allgemein anerkannt ist. Danach strebt das ganze Land. Es ist der Pfad der USA. Das ist eine sehr wirkungsvolle Art, eine nationale Identität aufzubauen. 

Russland ist anders, und während oft von einem nationalen Weg mit nationalen Werten (Gott, Familie, Opfer bringen, Militärdienst) die Rede ist, hört man kaum den Begriff „nationaler Traum“, außer in einem Gespräch über die Vereinigten Staaten.  

Warum ist das so? Weil in unserer Kultur das Individuum von der nationalen Idee absorbiert wird. Der individuelle „Traum“ tritt in den Hintergrund. Deshalb ist es für uns, auch für mich persönlich, eine so typisch amerikanische Phrase. 

Die historischen Prozesse, die die russische Mentalität geprägt haben, haben zu einem Mangel an Motivation geführt, der durch das Fehlen des Versprechens einer gerechten Belohnung für die eigenen Bemühungen noch verstärkt wird. 

Daher haben wir im Gegensatz zu Amerika nur diesen nationalen Weg. Etwas, was uns alle, zumindest theoretisch, glücklich machen sollte. Das ist eine sehr östliche Herangehensweise. Aber weil Russland geografisch (und damit auch kulturell) zwischen Ost und West liegt, sind wir auch anfällig für Ungehorsam und Aufruhr. 

Der Unterschied besteht darin, dass unser Streben nach Glück und individuellem Gewinn nicht gleichbedeutend ist mit einem nationalen Traum, sondern mehr der Versuch, die systemischen Ungerechtigkeiten zu überwinden, indem wir alles tun, um die gleichen materialistischen Errungenschaften wie ein kapitalistischer Westler zu erreichen: ein schickes Auto, ein Haus und andere Besitztümer. 

Wenn wir die Gelegenheit haben, ein Stück vom Kuchen abzubekommen, greifen wir zu. Aber da es nicht in unserer Verfassung steht, anders als in den USA, habe auch ich kein nationales Konzept eines „russischen Traums”, lediglich ein normales menschliches Bedürfnis nach Besitz und persönlichem Wohlstand. 

>>> Wie haben sich die ideologischen Werte Russlands im Laufe der Jahrhunderte verändert?