Vor den Augen flimmern die Rückennummern von Männern und Frauen. Die Athleten wärmen sich vor dem Lauf direkt auf der Straße auf. Aus den Mündern dampft es und die Haare sind vom ersten Schnee nass. Es riecht nach Nadelbäumen – dieser Marathon führt durch einen bewaldeten Park neben dem Stadion.
„Nun, wollt ihr loslaufen?“, ruft einer der Kampfrichter. Die Menge antwortet mit einem zustimmenden Murmeln und stellt sich am Start auf.
Eine Frau drängelt sich langsam in die erste Reihe vor. Sie ist nicht einmal 1,50 m groß, das graue Haar ist ordentlich unter einer Mütze versteckt, die Beine stecken in engen Leggins.
„Man spürt hier einen solchen jugendlichen Enthusiasmus – wer würde da nicht mitlaufen wollen?“, fragt sie mich. Ich nicke und zittere vor Kälte – sie will laufen, aber ich träume nur von Wärme und heißem Tee.
Eine Minute später gibt der Kampfrichter das Startsignal. Die ältere Frau ist eine der ersten, die davonläuft, aber nach 30 Sekunden ist sie bereits im Hinterfeld, lacht und plaudert mit anderen Rentnern.
Klara Bogatowa läuft, wie sie selbst sagt, nicht mehr um den Sieg, sondern aus Vergnügen. Seit 15 Jahren trainiert die Frau täglich und läuft mindestens einmal pro Woche 10 km. Mit ihrem Alter – 86 Jahre – ist sie die älteste Langstreckenläuferin in Russland.
Der erste Lauf
Klara glaubt, dass die ganze Welt bei einer „russischen Babuschka“ bald nicht mehr an eine alte Frau mit Kopftuch und Piroggen denken wird, sondern an eine aktive Sportlerin.
„In Zukunft wird die russische Großmutter mein Image haben. Die Menschen werden verstehen, dass Gesundheit wichtiger ist. Als Rentnerin Socken zu stricken lohnt sich nicht mehr – die werden ja sowieso überall für ein paar Rubel verkauft“, ist sie sich sicher. Sie selbst begann erst im fortgeschrittenen Alter mit dem Laufen.
„Ich mochte diesen Sport eigentlich nie. Selbst an der Universität quälte ich mich mit dem Ausdauerlauf und konnte die Norm nicht erfüllen“, erinnert sich Bogatowa lächelnd vor dem Start und hält eine Medaille vom letzten Wettbewerb in der Hand. Sie sagt, sie habe zwei Kartons voll mit diesen Medaillen, das Regal zu Hause ist voller Pokale und Teilnahme-Urkunden.
Klara selbst lebte den größten Teil ihres Lebens mit ihrem Mann in Usbekistan, lehrte an der Taschkenter Verkehrshochschule, wurde aber in Nischni Nowgorod geboren. Sie zog im Alter von 69 Jahren zu ihrer Tochter nach Moskau. Damals sah sie ein Werbeplakat für einen Joggingclub vor ihrem Haus. Vor dem ersten Rennen trainierte sie etwa einen Monat lang auf dem nahegelegenen Schulsportplatz.
„Ich war eigentlich immer recht schlank, wollte aber ein paar Pfund abnehmen“, lacht sie. „Und bereits beim ersten Lauf habe ich den zweiten Platz belegt! Als Preis erhielt ich eine schöne Kristallvase. Ich sah sie mir an und dachte : Nein, von jetzt an werde ich nicht zu mehr zu Hause sitzen.“
Eine Zeit lang lief Klara mit jüngeren Athleten.
„Ich bin früher 20 km gelaufen, schaffe aber jetzt nur noch 10 km. Wenn ich renne, rufen mir die Kinder zu: Super! Das ist ein schönes Gefühl. Einmal hielt mich ein Offizier an und sagte, dass er seinen Soldaten von mir erzählen und mich als Beispiel aufführen werde“, prahlt Bogatowa.
Reisen dank Laufen
Das Laufen in Moskau und der Region begann sie schnell zu langweilen und Klara begann zu reisen.
„Ich glaube, es war in Susdal, wo wir in Bastschuhen gelaufen sind. Zuerst fühlte es sich an, als ob man in Körben ginge, so hart war es. Aber dann wurden sie geschmeidig und waren wie Pantoffel. Oder im August - da hatten wir einen Lauf, bei dem wir 1 km schwimmen und 4 – 5 km rennen mussten. Du schwimmst und musst dann deine Laufschuhe anziehen, kannst aber deine Schnürsenkel nicht binden, weil du so zitterst. Das ist die Art von Herausforderung, die ich mag“, erinnert sich Bogatowa.
Ihr letzter Lauf fand in Lissabon statt. „Die Teilnahmegebühr war mit ca. 6.000 Rubel (85 Euro) natürlich recht teuer. Es war warm, die Sonne schien, die Bäume blühten und es kamen 20.000 Läufer – das war eine Menschenmenge! Die ganze Stadt war aus dem Häuschen, alle applaudierten uns. In Russland würde ich mir auch eine solche Unterstützung wünschen“, sagt Klara.
Das Image der Großmutter als Sportlerin
Klaras Tochter unterstützt die Initiative ihrer Mutter und läuft mit ihr. Früher lief auch ihr Enkel mit, aber als er in die Pubertät kam, hörte er auf.
„Er sitzt jetzt lieber am PC und hat keine Zeit mehr. Ja, und im Sportunterricht in der Schule wird man demotiviert. Da geht es nur noch um Siege und die Kinder lernen es nicht, Spaß am Laufen zu haben“, beklagt sich Bogatowa.
Aber Klara liebte es, mit den Jungen zu laufen.
„Die sprechen nicht über irgendwelche Krankheiten, sondern darüber, wer welche Strecke in welcher Zeit gelaufen ist. Und mir gefällt die Tatsache, dass ich gerne laufe und die Beine sich noch bewegen“, erklärt Bogatowa.
Vor dem Treffen versicherte Klara, dass sie die 10 km lange Strecke in anderthalb Stunden zurücklegen wird. Etwa 40 Minuten später stehe ich im Wald, wo die Mitte der Strecke sein soll. Noch einmal 30 Minuten später kommt ein Fotojournalist auf einem Fahrrad vorbei und teilt mir mit, dass die Läufer alle schon längst im Ziel seien. Trotz ihrem Alter konnte ich Klara nicht einholen.
„Du Ärmste, dir muss doch kalt sein... Das Wetter ist nicht besonders gut. Du solltest im Mai mit mir in Nischni Nowgorod laufen – vielleicht gefällt es dir“, sagt sie mit einem bissigen Lächeln.
Und wahrscheinlich sollte ich die Einladung annehmen, um so in Form zu bleiben wie sie.