Mitte März, als in Russland bereits mehr als 50 am Coronavirus erkrankte Menschen registriert worden waren, drängten sich Dutzende Menschen in eine kleine Holzkirche im Norden der Hauptstadt – dorthin war aus dem Gebiet Brjansk erstmalig die wundertätige, nach Myrrhe duftende Lokotka-Ikone „Eleusa” der Mutter Gottes gebracht worden. Männer und Frauen standen stundenlang in der Schlange, um die Ikone zu küssen.
Juri Schischkow, Weihbischof der Diözese Schelesnogorsk im Erzbistum Kursk, versicherte, dass die Ikone bei der Behandlung von Krebserkrankungen und Unfruchtbarkeit helfe. Und Ljudmila, eines der Gemeindemitglieder, äußerte sich gegenüber den Medien selbstbewusst: „Das Coronavirus wird durch die Küsse vernichtet! Ich glaube nicht, dass man sich in der Kirche anstecken kann, geschweige denn von einer solchen Ikone!“
Zwei Tage später, am 16. März, erließ der Bürgermeister von Moskau ein Dekret, das Massenveranstaltungen mit mehr als 50 Personen verbietet. Ähnliche Maßnahmen wurden in St. Petersburg eingeführt. Innerhalb weniger Tage ist die Zahl der Erkrankten in Russland auf 93 Personen angestiegen. Wie haben sich die neuen Umstände auf die russisch-orthodoxe Kirche ausgewirkt?
Reliquien und Desinfektion
Am 10. März wurde ein Teilchen einer Reliquie Johannes des Täufers in der Kasaner Kathedrale in St. Petersburg ausgestellt. Innerhalb von sieben Tagen wollten sich 70.000 Menschen die Reliquie ansehen. Am Eingang des Kirche standen Antiseptika und Desinfektionsmittel bereit und ein Freiwilliger wischte die Oberfläche der Lade mit dem Heiligtum regelmäßig ab. Niemand weigerte sich, die Reliquie zu küssen, aber einige Leute nahmen dabei ihre Masken nicht ab.
Diese Neuerung bei der Verehrung von Reliquien wurde eingeführt, nachdem sie Patriarch Kirill von Moskau und ganz Russland für die Durchführung von Gottesdiensten der Russisch-orthodoxen Kirche genehmigt hatte.
Die Regeln sehen Folgendes vor:
- Taufen sind nur einzeln mit einer anschließenden Desinfektion des Taufbeckens durchzuführen;
- Für die Salbung ist ein Wattestäbchen und eine Papierserviette zu verwenden;
- Ikonen, die von den Gemeindemitglieder berührt werden, sind regelmäßig mit Desinfektionslösungen zu behandeln;
- Bei der Kommunion soll man nach jeder Person den Löffel „mit einem alkoholgetränkten Tuch abwischen, in Wasser tauchen und das Wasser anschließend entsorgen“.
Darüber hinaus dürfen die Gemeindemitglieder bei der Kommunion nicht die Hand des Priesters, das Kreuz oder den Kelch küssen.
Die Geistlichen selbst müssen ihre Hände alle zwei Stunden desinfizieren, die Kirchenräume lüften und ihre Körpertemperatur messen, bevor sie ihren Arbeitstag beginnen.
Nicht nur die Russisch-orthodoxe Kirche
Erzbischof Paul (Paolo) Pezzi, Ordinarius der römisch-katholischen Erzdiözese der Muttergottes ihrer Zentrale in Moskau, veröffentlichte ebenso Empfehlungen für Priester zur Prävention der Ansteckung mit dem Coronavirus.
Die Empfehlungen besagen, dass die Kirchen mit Desinfektionsmitteln ausgestattet werden sollten und der Pastor beim Abhalten von Messen, sollten seine Finger die Lippen eines Gemeindemitglieds berührt haben, „die Kommunion aussetzen und die Hände mit Desinfektionsmittel reinigen“ muss. Die Pastoren sollten an die Hygiene erinnert werden und daran denken, dass die Kommunion auch außerhalb der Messe empfangen werden kann. Die Empfehlungen gelten vorerst bis zum 3. April 2020.
Priester buddhistischer Tempel in Russland werden in ihre Zeremonien Gebete zum Schutz vor dem Coronavirus aufnehmen.Die Tempel werden nass gereinigt und häufiger mit antiseptischen buddhistischen Mitteln beräuchert.
Die Geistliche Verwaltung der Muslime Russlands wiederum empfahl die täglichen fünf Gebete und das Freitagsgebet in der Moschee abzuschaffen sowie eine individuelle Lesung der täglichen fünf Gebete durch den diensthabenden Imam zu organisieren. Es wird zudem empfohlen, in Moscheen Antiseptika bereitzustellen. Alle Besucher sollten die Temperatur mit berührungslosen Thermometern messen. Darüber hinaus sollten Moscheen zusätzlich gereinigt werden.
Gegen die Regeln im Namen des Glaubens
Trotz der neuen Anweisungen ziehen es einige Gläubige vor, das Coronavirus mit ihren eigenen Methoden zu bekämpfen. Am 18. März hatte der Leiter des Kirower Bezirks des Leningrader Gebiets Andrei Gardaschnikow nach seinen eigenen Worten „es nicht mehr ausgehalten“ und eine Bannprozession organisiert, wie er auf Instagram berichtete. Nach einigen Stunden wurden die Kommentare zur Ankündigung der Prozession blockiert und am nächsten Tag erklärte Gardaschnikow, warum die Veranstaltung nichtsdestotrotz durchgeführt werden sollte.
„Die Prozession ist nicht nur eine Form des gemeinsamen Gebets, sondern auch eine kraftvolle spirituelle Heilungszeremonie, zu der unsere frommen Vorfahren an Feiertagen und in Zeiten der Pest und anderer Epidemien Zuflucht nahmen. Die Prozession heiligt das Gebiet, an dem sie vorbeizieht, die Luft selbst und natürlich auch die Menschen, die daran teilnehmen. Denn wo Christus ist, kann es keine Unreinheit geben“,schrieb der Bezirkschef.
Die traditionelle Osterprozession findet ebenso in Wolgograd statt. Der Metropolit Fjodor von Wolgograd und Kamyschin glaubt an die Notwendigkeit, die Prozession auch während der Coronavirus-Pandemie abzuhalten. „Wir kennen viele Beispiele dafür, dass eine Prozession mit der Ikone der Mutter Gottes solche ansteckenden Krankheiten gestoppt hat. Daher sollte die Prozession nicht einfach nur als eine Versammlung von Menschen an einem Ort, sondern als Reinigung angesehen werden“,erklärte der Metropolit.
Täglich werden auch im Zentrum Moskaus Prozessionen durchgeführt. Das verkündete auf Instagram der Vorsteher des Wysoko-Petrowskij-Klosters in Moskau, Pjotr (Jeremejew).
Gleichzeitig forderte der Erzdiakon der Russisch-Orthodoxen Kirche, Andrej Kurajew, die Gläubigen auf, von einer Teilnahme an den Prozessionen abzusehen. „In einigen anderen Bereichen wurden solche Veranstaltungen bereits abgesagt, weil von diesen Menschenansammlungen eine gewisse Gefahr ausgeht. <...> Wenn die Prozession stattfindet, wird das auf dem Fernsehbildschirm zu sehen sein, es wird darüber berichtet und die Leute werden sagen: Warum setzen Sie die Menschen einem Risiko aus? Es ist besser, auf solche Veranstaltungen zu verzichten und stattdessen mit seinem Gebet ein gutes Beispiel zu geben“, verlangte Kurajew.