„Medizinische Ethik ist hier kein theoretisches Thema“: Russische Virologen über die Lage in Italien

Sputnik
Militär- und Zivilexperten gaben erste Kommentare zur Situation in einem der am stärksten betroffenen Gebiete des Landes ab.

Seit Ende März arbeiten acht Brigaden russischer Militärvirologen (etwa 100 Ärzte) in der italienischen Stadt Bergamo, einem der am stärksten mit Coronaviren infizierten Gebiete des Landes.

„Unsere Fachleute unter der Leitung führender [russischer] Epidemiologen desinfizieren Altersheime, die Hotspots für Corona- und andere Virusinfektionen sind. Niemand hatte sich bis dahin ernsthaft und konsequent damit beschäftigt. Für uns ist so etwas ungeheuerlich, aber hier ist es das normal", berichtet Alexander Semjonow, stellvertretender Direktor des Pasteur-Instituts für Epidemiologie und Mikrobiologie der Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor in St. Petersburg, der gegenwärtig im italienischen Bergamo Coronavirus-Patienten betreut, in einem Interview mit der Zeitung Kommersant.

Nach seinen Worten desinfiziert das russische Militär täglich drei Einrichtungen und setzt zu diesem Zweck jedes Mal ein eigenes Spezialisten-Team ein.

Viele nicht systemkritische Einrichtungen, bis hin zu Ausstellungszentren, werden für die Behandlung von Patienten umgerüstet, berichtete Semjonow. Gleichzeitig stellen nicht nur die Regierung, sondern auch die Anwohner sowie ehemalige Militärangehörige Geld für diesen Zweck zur Verfügung.

Die Krankheit begann sich Ende März in Italien exponentiell auszubreiten.

„Unter diesen Bedingungen wurde das Gesundheitssystem auf seine Belastbarkeit geprüft und es wäre fast kollabiert. Sie können sich nicht vorstellen, wie der Chefarzt reagierte, als er erfuhr, dass wir ein paar Dutzend Beatmungsgeräte mitgebracht haben und diese auch selbst einsetzen werden. Also nicht nur helfende Hände, die hier auch dringend benötigt werden, weil viele Ärzte bereits ausgefallen sind. Er freute sich wie ein Kind, das ein Weihnachtsgeschenk erhält“, erzählte der Virologe.

Seinen Worten zufolge leiden die Ärzte in Italien an Burnout, weil sie übermüdet sind und ständig neue Patienten aufnehmen müssen.

„...[in Italien] kommen auf einen Arzt ein oder zwei Beatmungsgeräte und drei bis fünf Patienten mit Atemnotsyndrom, d.h. Personen, die praktisch nicht selbstständig atmen. Das kann einen in den Wahnsinn treiben, wenn man entscheiden muss, wer beatmet werden soll! In dieser Situation ist das Konzept der medizinischen Ethik kein theoretisches Problem mehr, sondern eine sehr schwierige Wahl für den Arzt“, erklärte Semjonow.

Der Experte glaubt, dass Italien mit der Einführung der Quarantäne mindestens drei Wochen zu spät gekommen sei. Die derzeitige Situation im Land ist darauf zurückzuführen, dass man dachte, dass „das Coronavirus irgendwo weit weg ist, aber nicht hier“.

„Italien ist sehr lange nicht in die Gänge gekommen. Gestern haben unsere Spezialisten in einem Pflegeheim in der Nähe von Bergamo gearbeitet. Von den 120 Bewohnern des Heims sind 50 bereits gestorben, weitere 60 sind mit dem Coronavirus infiziert – sie werden jetzt getestet. Das ist der Preis dafür, dass die Verwandten nicht zu Hause bleiben wollten und ihre geliebten Großeltern besucht haben“, fügte er hinzu.

Mit Blick auf die Covid-19-Statistik in Italien glaubt Semjonow, dass die Situation „besser als gestern“ sei, aber eine optimistische Aussage über die Bezwingung der Krankheit oder die Überwindung des Höhepunktes der Verbreitung zu treffen, sei zu früh.

Was ist über die russischen Ärzte, die in Italien arbeiten, bekannt?

„Die Fachleute, die von der russischen Regierung nach Italien geschickt wurden, waren bereits 2014 in Afrika zur Bekämpfung der Ebola-Virus-Epidemie im Einsatz“, sagte Dmitri Safonow, ehemaliger Militäranalytiker der Zeitung Iswestija, gegenüber Russia Beyond.

Er berichtete, dass einige von ihnen, darunter auch Semjonow, auf Anweisung des Verteidigungsministeriums in China waren, um Covid-19-Patienten zu behandeln, aber „diese Reisen waren kurzfristig und individuell und hatten nicht das Format eines umfassenden medizinischen Einsatzes, wie im Falle Italiens.“

„Die Informationen dieser Ärzte dienen der Verabschiedung neuer Maßnahmen, um der Verbreitung des Coronavirus in Russland entgegenzuwirken. Einfacher ausgedrückt: Sie sind gezielt, um unter allen Umständen zu vermeiden, dass sich im Land das italienische Szenario wiederholt“, fügte der Analytiker hinzu.

Der Experte glaubt, dass die Ärzte mindestens ein bis zwei Monate in Italien verbringen werden, bevor sie über eine Rückkehr in ihre Heimat nachdenken können, geschweige denn über die Bezwingung des Coronavirus.

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