Ich komme aus Massachusetts, wo unsere Distanziertheit nichts mit unserem Gegenüber zu tun hat. Es ist einfach eine persönliche Entscheidung. Auch den Russen sagt man das nach und es hat ihr Image in der Welt geprägt. In Massachusetts sind wir lieber aufrichtig, als Menschen durch aufgesetzte Freundlichkeit zu schmeicheln. Ich habe die Russen gefragt, warum sie so selten Lächeln und was sie dazu bewegt, die Zähne doch zu zeigen.
„Lächeln ist ein Zeichen für Schwachsinn“
„Nun, Du hast wahrscheinlich von dem russischen Sprichwort gehört, dass grundlos Lächeln ein Zeichen von Schwachsinn sei“, sagt meine St. Petersburger Freundin Nadja. „Und da Kinder natürlich oft lächeln, hören Sie diesen Quatsch oft von ihren anmaßenden Eltern. Woher dieses Sprichwort kommt, ist eine gute Frage.“
Nadja geht davon aus, dass es wahrscheinlich seine Wurzeln in der russischen bäuerlichen Lebensweise hat. Der Alltag war sehr anstrengend und der ständige Kampf gegen die raue Natur beim Anbau von Nahrungsmitteln zu Überlebenszwecken hat womöglich zu der Überzeugung geführt: Leben ist keine Freude, sondern Leiden. Leute, die oft lächeln, provozieren damit die mürrischen Mitmenschen. Es steckt also Missgunst dahinter: Du wagst es glücklich zu sein? Ich leide und du sollst auch leiden. „Wir Russen sind nicht wie Italiener für Dolce Vita gemacht“, fügt Nadja hinzu.
Nadja bringt dennoch einiges zum Lachen:
- Ihre Lieben oder niedliche Tiere sehen
- Gehalt bekommen
- Vorfreude auf den Urlaub
- Dumme Witze und Memes
Das ernste „Sowjetgesicht“ und Dostojewskis Erbe
Jara, die über einen guten Witz lachen kann, nennt es das ernste „Sowjetgesicht“. Sie glaubt, dass es Teil der Erziehung in der UdSSR war, dass man hart arbeiten müsse, um etwas zu erreichen. „Deshalb sind alle schlecht gelaunt und müde. Also nenne ich es Sowjetgesicht.“
Als ich meinen Freund Sascha nach seinen Erklärungen für dieses Stereotyp fragte, sagte er: „Ich denke, die häufigste Erklärung basiert auf dieser Idee der Aufrichtigkeit. Das bedeutet, dass die Russen nichts ausdrücken, was sie nicht wirklich fühlen.“
Sascha hat weitere mögliche Erklärungen hinzugefügt:
- Die Geschichte - es ist viel passiert und die Menschen wurden ein Jahrhundert lang massiv unterdrückt.
- Nationale Mentalität, auch bekannt als: Wir sind alle traurig.
Denken Sie an die Protagonisten in den Werken von Dostojewski, Tschechow oder Tolstoi. Die russische Mentalität zeichnet sich demnach nicht durch Aktion, Freude und Glück aus. „Wir sind eine Nation von Philosophen. Wir überinterpretieren alles, versuchen zu verstehen, was vor sich geht (meist nichts Gutes) und suchen Erklärungen für die Gegenwart, statt aktiv zu werden und zu versuchen, eine bessere Zukunft zu schaffen“, meint Sascha.
Russen, die häufig lächeln, haben wahrscheinlich Auslandserfahrung
Er wettet, dass ein Russe oft nicht lächelt, weil er über den Tod nachdenkt. Oder eine andere Version davon in der russischen Realität: Politik, Demütigung, Unterdrückung, soziale Kälte, Hässlichkeit, Unfreundlichkeit von anderen und einem selbst.
„Wenn eine Person immer ein Lächeln auf den Lippen hat und sehr kommunikativ ist, würde ich vermuten, dass sie eine ganze Weile in Italien oder anderswo im Ausland gelebt hat, wo die Menschen lachen und gut essen, statt sich zu betrinken und zu lesen“, so Sascha.
Sascha erzählt von Momenten, die ihn zum Lachen gebracht haben: „Ich weiß nicht, was mich wirklich zum Lächeln bringt, es ist Verschiedenes. Das letzte Mal, als ich lachen musste, war wegen eines Erlebnisses in einem großen Supermarkt. Ein betrunkener Mann wollte sich vordrängen. Er erklärte, er sei von der Stadtverwaltung Kasan und verlangte Respekt von den Untergebenen. Die Kassiererin sah ihn aufmerksam und still lange an. Auch alle anderen waren still (und dachten womöglich an den Tod und an Alkoholismus). Dann sagte sie: ‚Das ist der Newski-Prospekt.‘“
Maria, einer in Österreich lebenden Russin, zaubern zum Beispiel niedliche Hunde und Babys ein Lächeln aufs Gesicht. Sie glaubt auch, dass die russische Ernsthaftigkeit mit der Geschichte zu tun hat: „Unsere Geschichte hatte einen enormen Einfluss auf die Menschen. Im 20. Jahrhundert gab es nicht für viele etwas zum Lachen. Wenn einer Grund zum Lachen hatte, ging es ihm wahrscheinlich besser als allen anderen und er wollte das verbergen, um nicht aufzufallen. Das Lächeln wäre verdächtig gewesen“, lautet Marias Erklärung.
Russen lachen über die gleichen Dinge wie Amerikaner
Zwar werden Sie in Russland weniger Menschen lächeln sehen, aber das, was die Menschen zum Strahlen bringt, ist genau das gleiche wie in den USA.
Die Russen mussten sich in der Vergangenheit mit mehr Elend auseinandersetzen als der Rest der Welt, was bereits ohne ein freundliches Gesicht machen zu müssen schwer zu ertragen war.
Das Stereotyp der russischen Kälte hat den gleichen Ursprung wie das Stereotyp von „The American Smile“, dem amerikanischen Lächeln. Es sind die Überreste der Propaganda des Kalten Krieges, die in der untersten Schublade unserer kulturellen Kühlschränke verrotten. Es unterscheidet sich kaum von der Dynamik zwischen dem Norden und dem Süden der Vereinigten Staaten. Als ich Massachusetts verlassen habe, um Orte im Süden zu besuchen, habe ich andere Nordländer gefragt, warum zum Teufel alle dort unten so viel lächeln. Und neun von zehn Antworten lauteten: Sie sind alle ein Haufen Idioten.
Lächeln macht dich nicht zum Idioten und nicht lächeln macht dich nicht kalt. Letztendlich unterscheidet sich das, was die Menschen in beiden Kulturen zum Lächeln bringt, nicht so sehr voneinander: Welpen, Witze, Meme und Spinner in der Schlange im Supermarkt bekommen alle das, was sie verdienen.
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