Klimawandel: Warum steigen die Temperaturen in Sibirien plötzlich an?

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JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA
In Russland werden immer häufiger Hitzerekorde verzeichnet. Das ist nicht gut. Die Folgen für Mensch und Natur sind verheerend.

„Kirschwinter“ nannten russische Meteorologen inoffiziell die letzte „kalte“ Jahreszeit. Wenn die Temperatur im Winter über die klimatologische Norm steigt, wird sie auf der Karte hellrot markiert. Die Karte von 2019 sah aus, als hätte jemand Wein darüber verschüttet:

Temperaturrekorde in Russland sind mittlerweile nichts Neues mehr in den Nachrichten. Der letzte wurde am 20. Juni vermeldet, als der französische Meteorologe Etienne Kapikyan in Werchojansk, Sibirien, der kältesten Stadt der Erde, + 38 ºС aufzeichnete. Das ist die höchste Temperatur, die jemals im Polarkreis gemessen wurde.

Seit Januar 2020 herrschen in Westsibirien ungewöhnlich hohe Temperaturen. Der Mai war der bisher heißeste in der Region. Auch in anderen Teilen Russlands mussten die Verkäufer von Pelzmänteln und die Betreiber von Skigebieten Verluste hinnehmen.  

Wissenschaftler berichten, dass sich Russland, dessen Territorium zu zwei Dritteln Permafrostgebiete sind, schneller erwärmt als der Rest des Planeten.  

Warum ist es in Sibirien so warm? 

Es gibt mehrere Gründe, und was wir jetzt beobachten, ist ihre kumulative Wirkung.

Der Geowissenschaftler Dr. Alexander Kislow erklärt, dass das Wetter in Russland (wie in Europa) von zwei Drehbewegungen bestimmt wird. Die eine (Antizyklon) entsteht auf den Azoren im Atlantik und die andere (Zyklon) bei Island. Es stellt sich heraus, dass die Intensität dieser Wirbel dazu neigt, synchron zu variieren. Wenn beide gleichzeitig toben, „bewegen sie einen riesigen Strom warmer feuchter Luft“ über den Kontinent. Kislow sagt, dass die Drehbewegungen im letzten Winter besonders stark waren.

Pawel Konstantinow, Dozent am Institut für Meteorologie und Klimatologie der Moskauer Staatlichen Lomonossow Universität, erklärte gegenüber Russia Beyond, dass der warme Winter in Russland eine Folge der Druckverteilung auf der Nordhalbkugel in diesem Jahr sei. Seiner Ansicht nach sei es daher falsch, die derzeitige Anomalie als direkte Folge der globalen Erwärmung zu betrachten. Es ist komplizierter. „Das bedeutet jetzt nicht, dass auch die folgenden Winter solche Temperaturen aufweisen werden. Das ist nicht die neue Norm“, ist Konstantinow überzeugt. 

Unbestritten ist, dass der ungewöhnlich warme Winter in vielen Gebieten zu einem trockenen Frühling und einem geringen Feuchtigkeitsgehalt der Bodenschichten führte. Dies könnte wiederum zu größeren Waldbränden in Sibirien führen. Im Spätsommer des vergangenen Jahres brannte der Wald auf etwa 2,5 Millionen Hektar. In diesem Jahr wurden laut „Washington Post“ (eng) bereits mehr als 600.000 Hektar Wald durch Feuer vernichtet. 

Die Klimaveränderungen sind besonders in der Arktis zu beobachten. „Die Arktis erwärmt sich insgesamt, während in Sibirien die Veränderungen nicht einheitlich sind“, so Konstantinow. „Die Erwärmung der Arktis und Sibiriens hängen jedoch nicht direkt zusammen. In der Arktis wird es wärmer, weil sie auf einem höheren Breitengrad liegt.“

Russland erwärmt sich etwa 2,5-mal schneller als der globale Durchschnitt, meint Andrei Kiseljow, Forschungsleiter am Wojejkow Geophysikalischen Observatorium. „Das liegt an den geografischen Merkmalen: Wir leben innerhalb eines Gürtels, in dem die Landfläche deutlich über der Wasseroberfläche liegt. Der Ozean als riesiger Wärmespeicher kann die Auswirkungen der sich ändernden Bedingungen neutralisieren, aber das Festland hat eine völlig andere Wärmekapazität.“ 

Und das hat Konsequenzen.

Was kommt als nächstes? 

„Während meiner langen Karriere habe ich noch nie so große und schnell wachsende Raupen gesehen, sagt (eng) Wladimir Soldatow, Direktor des Waldschutzzentrums im Gebiet Krasnojarsk. Er spricht vor allem von der sibirischen Seidenraupe, die sich von Baumrinde, Knospen und Nadeln ernährt und unter warmen Bedingungen beträchtliche Ausmaße annehmen kann. 

Riesige Motten mögen Entomologen überraschen und sogar erfreuen, aber darum geht es nicht: Raupen zerstören Waldgebiete und lassen sie anfälliger für Brände werden. In diesem Jahr wurde die Seidenraupe auch 150 Kilometer nördlich ihres bisher angestammten Lebensraumes entdeckt. Sie soll für das Sterben von bereits mehr als 120.000 Bäumen verantwortlich sein.

Ein weiteres bedeutendes Problem sind anthropogene Katastrophen, wie sie im Juni dieses Jahres in Norilsk passiert sind. Einer Version der Ereignisse zufolge haben die klimatischen Veränderungen dazu geführt, dass der Boden eines Tanks korrodierte und mehr als 20 Tonnen Öl ausliefen. Laut Georgi Safonow, Direktor des Zentrums für Umwelt- und Ressourcenökonomie an der Moskauer Hochschule für Wirtschaft, kommt es in Permafrostgebieten jedes Jahr zu mehr als 5.000 Öl-Verschmutzungen durch Unfälle mit Pipelines. Darüber hinaus ist der gesamten Infrastruktur in den nördlichen Regionen Russlands aufgrund von Feuchtigkeit und Kondensation keine lange Lebensdauer beschieden. Neubauten verfallen nach nur sieben bis neun Jahren.

Sorgen bereiten den Wissenschaftlern auch die sogenannten „Zombie-Brände“ (eng) in der Arktis. Dies sind Brände, die im Winter auch unter einer Schneeschicht unter der Erde überleben und im folgenden Frühjahr wieder aufflammen können. „In diesem Jahr gab es ungewöhnlich viele Torfbrände im Winter“, stellt Grigori Kuksin, Leiter des Brandschutz-Teams von Greenpeace Russland, fest. 

Tatsächlich ist das Phänomen alles andere als neu und wird jedes Jahr in einigen Regionen Russlands beobachtet, sagt Konstantinow: „In den 1970er Jahren schwelten die Torfmoore um Moskau im Verborgenen, wodurch der Winterschnee schwarz wurde. Wir haben es alle gesehen.“ 

Oder erinnern Sie sich an 2010, als ganz Moskau wegen brennendem Torf in Smog gehüllt war. Aber Brände dieser Art gibt es nun auch im Norden, in Regionen, in denen sie bisher weitgehend unbekannt waren. „Solche Brände sind für die Arktis untypisch, aber sie treten inzwischen auch dort auf“, bestätigt der Experte.

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