Online-Gamer: Viktor streamt mit seinen Füßen

Viktor kann seine Hände nicht kontrollieren. Er kann nicht laufen und wenn er versucht zu sprechen, kann es passieren, dass er einen Erstickungsanfall erleidet. „Keine große Sache“, sagt Viktor. Er ist glücklich als Streamer.

Viktor fand seine ersten Tage als Streamer schwer. Er musste all seinen Mut zusammennehmen und aus seiner Komfortzone heraustreten, in der er all die Jahre gelebt hat.  Es war nicht leicht. Doch er schaltete die Kamera ein und richtete sie auf seine Füße. Ein Fuß umfasste die Gaming-Maus und der andere bediente die Tastatur. Diese Bewegungen waren Viktor vertraut. Neu war, dass ihm nun jemand dabei zuschauen konnte. 

„Ich wollte wissen, wie die Leute, die ich jahrelang meine Freunde nennen durfte, mit der Wahrheit umgehen würden“, erinnert er sich ein Jahr nach seinem ersten Stream auf Twitch.

Er hat diese Freunde nie persönlich getroffen. Sie haben seine Stimme nie gehört. Viele von ihnen wissen nicht einmal, in welcher Stadt er lebt. „500 Kilometer von Moskau entfernt. In welche Richtung ist nicht so wichtig", sagt er allen, die danach fragen. Denn er hat Angst, dass manche versuchen wollen, ihn zu einem Treffen im wirklichen Leben zu überreden, mit den besten Absichten. „Ich bin überhaupt nicht bereit dafür“, gibt er zu. Es war das erste Mal, dass viele erfuhren, dass der 30-jährige Viktor an einer Zerebralparese leidet und dass er am Computer mit seinen Füßen spielt, kommuniziert und streamt

„Die ersten zehn Jahre meines Lebens habe ich in Krankenhäusern verbracht.“ 

Zerebralparese kann sich auf unterschiedliche Weise manifestieren und verschiedene Teile des Gehirns betreffen. Die Symptome dieser angeborenen Erkrankung können motorische Beeinträchtigungen, psychische Störungen oder beides verursachen. Völliger Mangel an Kontrolle über die Hände, die Unfähigkeit zu gehen, fehlerhafte Sprache: das sind Viktors Symptome. Im Kopf ist er völlig fit. 

In den ersten zehn Jahren seines Lebens waren Krankenhäuser sein Zuhause. Viktor hat sich während des Heranwachsens nie eingeschränkt gefühlt. „Ich hatte echte Freunde, konnte draußen sein und hatte so vieles, was andere nicht hatten. Ich habe mich mit all dem beschäftigt, womit sich andere junge Leute ebenfalls beschäftigt haben: Terminator, Star Wars und wie viel Coca-Cola noch im Kühlschrank war. Wie meine Eltern das alles gemeistert haben in einer Zeit, in der sie selbst noch Kinder von gestern und mit den Realitäten der 90er Jahre konfrontiert waren, weiß ich wirklich nicht“, sagt Viktor. 

Eines Tages kam die erste Spielekonsole - Sega - in Viktors Leben. Es war ein Geschenk seines Vaters und jemand hatte die logische Idee, den Joystick zu seinen Füßen zu legen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits mehrere Jahre lang vieles mit den Füßen erledigt, zum Beispiel die TV-Fernbedienung zu benutzen oder Legosteine zusammenzubauen. Auf Sega folgte eine PlayStation, und dann gab es den ersten PC im Haus. Davor waren Onlinespiele nur eine von vielen Aktivitäten. Doch „Lineage 2“, ein bekanntes Online-Rollenspiel mit Tausenden von Mitspielern, hat alles verändert. 

„In den ersten Tagen und Monaten war ich einfach verrückt nach diesem Gefühl von Freiheit, das ich bis dahin nur beim Spielen von GTA gespürt hatte. Die Tatsache, dass man von Live-Spielern umgeben ist, hat dieses Gefühl noch intensiviert“, erinnert sich Viktor. 

Und dann begann die virtuelle Welt, die reale zu verdrängen. 

Eines war Viktor besonders wichtig: völlige Anonymität. „Damit die Leute denken, dass sie mit einem zu tun haben, der so ist wie sie. In meiner Situation ist das Gefühl, dass ich mich nicht von anderen unterscheide, unbeschreiblich wichtig.“

In den Jahren 2003 bis 2009 war es zunächst sehr einfach, „einer von vielen“ zu bleiben, da im Internet im Wesentlichen auf Textbasis kommuniziert wurde. Dann, mit dem Aufkommen der Voice-Chats, wurde es schwieriger. „Als Ausrede habe ich immer behauptet, ich hätte kein Mikrofon.“ Mit der Zeit wurde Viktor mutiger und begann zu sagen, dass er wegen seines Gesundheitszustands so still sei. 

Streams, die Liebe und lebenslängliche Selbstisolation 

Jetzt hat er einen Streaming- und Spielplan. In der linken Ecke seines Bildschirms befindet sich für andere der Hinweis: „Streamer ohne Stimme, nur Chat :)“ und darüber steht: „Ich kann die Hände nicht benutzen“. Auf der rechten Seite ist zu lesen, dass er Spenden samme, damit er von seiner Freundin besucht werden kann. Vom seinem Ziel, 15.000 Rubel, ist er noch etwas entfernt. Bisher sind 3.400 Rubel eingegangen.

Seine Freundin fand er beim Streamen. Sie lebt 3.000 Kilometer weit weg. Sie haben sich zweimal gesehen und das letzte Neujahr zusammen verbracht. Viktor findet, er habe unbeschreiblich viel Glück. 

Viktor sagt, dass Streaming trotz der Unterstützung, die er von den Zuschauern erhält, seinen Lebensunterhalt nicht sichern kann. Daher verdient er als Freiberufler zusätzliches Geld, schreibt Artikel für Spieleportale und beabsichtigt, sich in Zukunft als Software-Tester zu versuchen.

„Verschiedene Übertragungsformate waren und sind im Trend. Ein Fußspieler zu sein, reicht eindeutig nicht aus, um ein Publikum zu halten", sagt er und gibt zu, dass er voll und ganz erkennt, dass das, was er tut, nicht einmal einzigartig ist und es im Internet viele Streamer mit eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten gibt. Leute, die mit Viktor chatten, bitten ihn gelegentlich, sein Spiel zu variieren. Sie wollen, dass er zumindest versucht zu sprechen, aber Viktor weigert sich, auch nur sein Gesicht zu zeigen.

„Das Problem besteht nicht in der Angst vor Hatern, sondern darin, nicht so akzeptiert zu werden, wie ich bin.“ Hater hat Viktor online zum Glück gar keine. Denn es gibt nicht allzu viele akzeptable Fotos von ihm, meint er: „Das Verhalten meiner Gesichtsmuskeln hängt sehr stark von meinen Emotionen ab. Ich habe große Schwierigkeiten sie zu kontrollieren.“ 

Er hat das Haus in den letzten sieben Jahren kaum verlassen. Er hat natürlich von dem neuartigen Coronavirus und der Pandemie gehört, aber in seinem Leben hat sich dadurch nichts geändert. Es ist schwer für ihn zu verstehen, warum es vielen Menschen nicht leicht gefallen ist, sich selbst zu isolieren, wo er schon fast sein ganzes Leben lang freiwillig von der realen Welt isoliert lebt und sich nie langweilt, solange er wenigstens ein Buch hat. 

Wenn man ihn fragt, was er sich wünschen würde, wenn er einen einzigen Wunsch hätte und es zu 100 Prozent sicher wäre, dass dieser in Erfüllung geht, kommt eine überraschende Antwort: „Es wäre nicht die Verbesserung meiner körperlichen Verfassung.“ Denn erstens gebe es Menschen, die viel größeren Widrigkeiten ausgesetzt seien und ebenfalls nicht mit dem Schicksal haderten. Und zweitens, so Viktor, sei das sowieso alles „triviales Zeugs“. 

Er sagt: „Ich denke, die Welt hat viele schöne Dinge verpasst, die nie realisiert wurden, weil irgendjemand gesagt hat: ‚Du wirst keinen Erfolg haben‘. Mein Wunsch ist also, dass die Menschen mehr glauben, und zwar an sich selbst!“  

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