Mitten im Wald stehen große Kessel. Darin kochen Gänse. Sie sind eine Opfergabe. Flügel, Kopf und Füße wurden zuvor abgetrennt und auf hölzernen Tabletts abgelegt. Aus dem Blut und einer speziellen Getreidemischung werden nun Bratlinge hergestellt. Man versammelt sich ums Lagerfeuer. Fünf Feuerstellen sind es. Gegessen wird erst nach einem gemeinsamen Gebet.
Dies ist ein heidnisches Ritual, das offiziell in Russland praktiziert wird. Die Teilnehmer sind ethnische Maris. Dieses Volk lebt hauptsächlich in der Republik Mari El im Osten des europäischen Teils von Russland. Noch vor ein paar Jahrhunderten wurden die Mari nach Sibirien verbannt. Dort in den Wäldern durften sie beten. Heute wird die traditionelle Religion der Mari - Marla - mit mehr Respekt behandelt.
„Wir waren die einzigen Mari im Dorf. Aber wir wurden von unseren Nachbarn beschützt. Sie erzählten niemandem, wie wir beteten, und wir sagten niemandem, dass sie orthodoxe Gebete verrichteten. Mein Vater war ein Yumotan (übersetzt aus dem Mari, es bedeutet „Freund Gottes“, diese Person war in den Mari-Familien der Vorbeter) und gleichzeitig Kommunist“, erinnert sich (rus) ein Bewohner aus dem Dorf Sernur.
Für die Mari ist ein Baum ein Abbild der Welt. Er verbindet die unterirdische Welt, die irdische Welt und den Kosmos. Es ist ein Vermittler zwischen den Göttern, von denen die Mari zwischen 70 und 140 haben. Die Mari beten ihre heiligen Wälder an.
Nach offiziellen Angaben (rus) gehören 67,3 Prozent der Einwohner der Republik der russisch-orthodoxen Kirche an, 14 Prozent sind Heiden und 5 Prozent sind Muslime. Viele derjenigen, die sich als russisch-orthodoxe Gläubige identifizieren, praktizieren jedoch auch heidnische Bräuche.
Extremismus-Vorwürfe gegen die Mari kamen erstmals Ende der 2000er Jahre auf, nachdem die Missionsabteilung des Moskauer Patriarchats der russisch-orthodoxen Kirche das Mari-Religionszentrum Oschmari-Chimari (übersetzt: Weiße Mari - Reine Mari) unter den „neuen religiösen Organisationen in Russland, die einen destruktiven und okkulten Charakter haben“, aufgelistet (rus) hat.
Damals wurde die Mari-Religion Marla immer häufiger im Kontext des religiösen Extremismus erwähnt. Einer der Marla-Hohepriester, Witali Tanakow, wurde vor Gericht gestellt, weil er ein Buch mit dem Titel „Der Priester spricht“ veröffentlicht hatte, das einige abfällige Kommentare zu anderen Religionen enthielt. Das Buch wurde in die Liste der extremistischen Literatur des russischen Justizministeriums aufgenommen. Und doch hat der heidnische Glaube der Mari in authentischeren Formen überlebt als viele andere vorchristlichen Kulte.
Laut dem Allrussischen Atlas der Religionen und Nationalitäten von 2012 bekennen sich (rus) rund 1,7 Millionen Menschen in Russland, das entspricht 1,2 Prozent der Bevölkerung des Landes, zur traditionellen Religion ihrer Vorfahren, verehren Götter und Naturgewalten. Die meisten dieser Glaubensrichtungen sind ethnische Religionen.
Aar Aiyy, ein alter Glaube der Jakuten, wurde in Russland erst 2014 offiziell anerkannt, nachdem er 318 Jahre lang verboten war. Die öffentliche Durchführung der Rituale und Massengebete im heiligen Tal von Tuymaada wurde durch ein Dekret von 1696 mit der Ankunft ethnischer Russen und des russisch-orthodoxen Glaubens verboten. So verlor Aar Aiyy als Massenreligion an Bedeutung und im 20. Jahrhundert wurde sie nur von einer Handvoll Menschen praktiziert. Niemand weiß, wie zahlreich die Anhänger inzwischen sind.
Die Jakuten glauben, dass die Welt aus drei Teilen besteht: der Oberwelt, in der die höchsten Gottheiten leben, der Mittelwelt, in der die Menschen leben, und der Unterwelt, der Wohnstätte der bösen Geister.
Was sie von allen anderen Heiden unterscheidet, ist, dass für die Jakuten alle Objekte in der Mittelwelt auch einen Geist haben.
Heutzutage werden ihre traditionellen und schönen Rituale zunehmend nicht von Priestern, sondern von Künstlern aus Jakutien praktiziert.
Gleiches gilt für die Udmurten, ein finno-ugrisches Volk, das im Mittleren Ural lebt. Bereits 1960 waren 70 Prozent des Dorfes Karamas-Pelga, in dem die ethnische Udmurtin Anna Stepanowna geboren wurde, heidnisch.
Jetzt befindet sich die heilige Kuala-Hütte, die wie eine gewöhnliche russische Holzhütte aussieht, im Ludorwai-Museum. „Die Udmurten sind Polytheisten. Die Essenz unseres Glaubens ist die Natur, und es gibt viele Götter in der Natur “, sagt Swetlana, Wissenschaftlerin im Ludorwai-Museum.
Dieses kleine Dorf 1.270 km östlich von Moskau, das einzige Udmurten-Reservat, hat sich längst zu einer „Touristenattraktion“ entwickelt. Es ist ein Ziel für Journalisten ebenso wie Schulkinder.
Gleichzeitig haben neue religiöse Bewegungen in Russland immer mehr Zulauf.
1991 nahm der ehemalige Verkehrspolizist Sergei Torop aus dem Gebiet Krasnojarsk den Namen Wissarion an, erklärte sich selbst zum Messias und gründete die „Kirche des Letzten Testaments“. Rund 5.000 Menschen folgten ihm in den Süden der Region Krasnojarsk, um dort ein Ökodorf, die „Sonnenstadt“, zu bauen. Dazu verkauften sie ihre Wohnungen und ihren sonstigen Besitz.
Die „Kirche des letzten Testaments“ ist eine Mischung aus einer Reihe von Weltreligionen und religiösen Praktiken, vom Hinduismus und Buddhismus bis zur Apokalyptik und den atheistischen Lehren von Karl Marx. Alle seine Anhänger leben in Erwartung des Endes der Welt, dessen Ankunft von Wissarion immer wieder nach hinten verlegt wird.
Seine Anhänger halten sich in der sibirischen Taiga an eine strenge vegane Ernährung, lehnen die traditionelle Medizin ab und fördern die Polygamie. Trotz der Tatsache, dass die russisch-orthodoxe Kirche und Religionswissenschaftler diesen Kult als destruktive Sekte bezeichnen, ist die „Kirche des letzten Testaments“ in Russland seit fast 30 Jahren ungehindert aktiv. Sie hat eine Registrierung beim Justizministerium der Russischen Föderation.
Der Professor und stellvertretende Vorsitzende des Expertenrates des Justizministeriums, Alexander Dworkin, meint (rus), dass die Existenz dieses Kultes „eine absolut unmögliche Situation“ sei: „Innerhalb der Russischen Föderation gibt es ein Gebiet von der Größe von zwei Dritteln Belgiens, in denen die Menschen nach ihren eigenen Gesetzen leben, geduldet von den Behörden. Es gibt Anlass zu der Vermutung, dass es dort sehr viele nicht registrierte Todesfälle gibt.“
Doch bisher hat ein Untersuchungsausschuss weitaus mehr Interesse an den wirtschaftlichen Erfolgen (rus) der Kirche von Wissarion gezeigt. In all den Jahren hat der Kult viele Immobilien angehäuft. Die Anhänger haben ihr Vermögen der Kirche überschrieben. Steuererklärungen und Kontrollen durch das Finanzamt gab es nicht. Es gibt eine Theorie (rus), dass die „Kirche des Letzten Testaments“ bisher unbehelligt blieb, weil man Angst vor einem Massenselbstmord ihrer Anhänger hat.
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