Sinegorje: Leben in einer gruseligen Stadt neben der berüchtigten „Straße der Knochen“

iolegkalinin; nakifaria
Eine fast ausgestorbene Siedlung am Kolyma-Fluss ist trotz ihrer Geschichte eine der malerischsten in Russland.

Sinegorje ähnelt etwas Pripjat, der Stadt in der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl. Verlassene Gebäude, darunter auch Wohnblöcke, stehen ohne Fenster oder Türen in der Landschaft. Leere Straßen führen nirgendwohin.

Im Gegensatz zu Pripjat hörte das Leben hier jedoch nie auf. In Sinegorje lebten früher etwa 12.000 Menschen. Heute zählt der Ort kaum 2.000 Einwohner. Er befindet sich neben einem Fluss und ist von Bergen umgeben, die oft eine blaue Farbe annehmen (auf Russisch sinij). Daher stammt der Name der Siedlung. 

Die Siedlung am Kolyma-Fluss entstand 1971. Die Menschen siedelten hierher um, um am Bau des Kolyma-Elektrizitätswerks mitzuarbeiten, dem einzigen seiner Art in der Sowjetunion. Etwa 30 Kilometer von Sinegorje entfernt liegt eine der berüchtigtsten Hauptstraßen der gesamten sowjetischen Geschichte, die als „Straße der Knochen“ bezeichnet wird.

In Kolyma befand sich früher ein Arbeitslager. GULAG-Gefangene wurden zum Bau einer 2.000 Kilometer langen Autobahn von Magadan nach Jakutsk und zu anderen umliegenden Infrastrukturen herangezogen, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen inmitten des Permafrosts arbeiten mussten. Im Winter fielen oft die Temperaturen auf minus 40 Grad Celsius. Historische Schätzungen gehen von mehr als 125.000 Todesopfern aus.

Aber einige Jahrzehnte später kamen die Menschen freiwillig an diesen Ort. „Wie viele andere kam auch meine Familie hierher, um den ‚Norden zu erobern‘, verführt von der Anziehungskraft der Region. Und natürlich, um im berühmten Gaskraftwerk arbeiten zu können“, erzählt Michail Skworzow, einer der Einheimischen. Er hat sein ganzes Leben hier verbracht, nachdem er 1983 im einzigen Entbindungszentrum in Sinegorje geboren wurde.

Michails Eltern waren von St. Petersburg hierher umgezogen. Sie gehörten zur Kategorie der sowjetischen Bürger, die hier neue Wohnungen beantragen konnten. Die Aussicht aus den Fenstern war phänomenal. „Das sonnenverwöhnte Schneetal, umgeben von Hügeln“, erinnert sich Michail. 

Während des Baus des Kraftwerks war Sinegorje eine geschäftige Stadt. Es gab einen Yachtclub, ein Skigebiet mit Bergbahnen, ein Sommerlager für Kinder, eine Banja, ein Kino, ein Kulturzentrum sowie ein Fitnessstudio und sogar einen zweistöckigen Flughafen mit einem Buffet. Einmal am Tag landete hier ein Flugzeug aus Magadan - der nächstgelegenen Stadt, etwa 480 Kilometer entfernt.

„Natürlich gab es hier keine Clubs oder luxuriöse Restaurants und Einkaufszentren. Aber das Leben war sehr gut. Das große Kulturzentrum ist leider niedergebrannt, ich erinnere mich daran. Es gab ein kleines Café. Es wurde vor langer Zeit geschlossen. Es gibt jetzt eine Bar - ein Treffpunkt für junge Leute, ein kleines Kulturzentrum und das wars“, erinnert sich die 22-jährige Polina, die ebenfalls ihr ganzes Leben in Sinegorje verbracht hat.

Die Abwanderung aus Sinegorje begann in dem Moment, als der Bau des Gaskraftwerks abgeschlossen war. Auch ließ die Begeisterung für den malerischen Norden laut Michail mit der Perestroika-Zeit nach, da ein großer Mangel an Waren herrschte. Es ist hier jedoch nicht üblich, verlassene Gebäude abzureißen. Also stehen sie weiter. Etwa zwei Drittel aller Wohnblöcke sind nun leer.

„Abgesehen von der Arbeit gibt es hier heute absolut nichts zu tun. Wir genießen die wunderschöne Natur, aber es gibt keinen Ort, an dem wir uns unterhalten können. Die Menschen versuchen oft, es in die Zivilisation zu schaffen, zumindest nach Magadan, und verkaufen ihre Wohnungen für 50.000 bis 200.000 Rubel (ca. 550 bis 2200 Euro).

„Schon seit ich in der ersten Klasse war, wird darüber diskutiert, die Stadt endgültig zu schließen“, sagt Polina und fügt hinzu, dass sie selbst auch plane, wegzugehen. Michail übrigens ist bereits vor langer Zeit weggezogen. 

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