Salechard: Wie lebt es sich in der einzigen Stadt am Polarkreis?

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ANNA SOROKINA
Salechard wurde in der endlosen Tundra in rauem Klima erbaut. Es ist eine der wenigen Städte in Russlands Fernem Norden, die Jahr für Jahr Bevölkerungszuwachs verzeichnet.

„Minus gibt es hier nur auf dem Thermometer!“ 

Andrei Syrowazki ist PR-Manager für ein lokales Energieunternehmen. Er zog 2016 von Krasnodar, der wärmsten Region Russlands, nach Salechard. „Ich habe Verwandte hier, ich war schon oft in Jamal und wusste, worauf ich mich einlasse“, sagt Andrei. „Hier habe ich ideale Arbeitsbedingungen und ein gutes Gehalt.“ 

Salechard ist das Verwaltungszentrum des Autonomen Gebiets der Jamal-Nenzen und die drittgrößte Stadt der Region. Die größten sind Nowy Urengoi und Nojabrsk mit jeweils über 100.000 Einwohnern. Die meisten der Bewohner arbeiten im Öl- und Gassektor. Etwa 80 Prozent des russischen Gases wird in Jamal produziert, während in Salechard mit seinen rund 50.000 Einwohnern die Bewohner meist in der Rentierzucht sowie in der Fischerei und im Dienstleistungssektor beschäftigt sind. Etwa zehn Prozent der Einheimischen entstammen indigenen Völkern: Nenzen, Chanten, Komi-Zyrjans. Salechard gehört dank der Zuschläge, die es wegen des Klimas und der abgeschiedenen Lage gibt, zu den Städten Russlands mit den höchsten Gehältern. Im Oktober 2020 lag es nach Moskau und Juschno-Sachalinsk in Sachen Lohn an dritter Stelle. Es gibt auch bestimmte Sonderleistungen wie Vorruhestand oder mehr Urlaub, 55 anstelle der üblichen 28 Tage.

„Alles in Salechard entwickelt sich schnell, die Sozialleistungen sind gut“, findet Andrei. Mir ist aufgefallen, dass junge Leute zwar zunächst die Gegend verlassen. Doch nachdem sie ihren Universitätsabschluss haben, kehren sie zurück und bringen andere junge Leute mit.“ 

Obwohl hier bereits im 16. Jahrhundert die erste Siedlung - die Festung Obdorsk - entstand, wurde Salechard selbst erst zu Sowjetzeiten erbaut, wobei der Bauprozess das nördliche Klima berücksichtigte. Hier wurden die Gebäude auf Stelzen errichtet, um sie vorm Einsinken in den Permafrost zu bewahren. Darüber hinaus haben die Architekten helle Farben verwendet, um den Mangel an Sonnenlicht und Vegetation auszugleichen.

Einer der beliebtesten Orte der Einheimischen in der Stadt ist ein zehn Meter-Denkmal für ein Mammut, das 2004 am Ufer des Ob erbaut wurde. Zu jedem Feiertag schmücken die Einheimischen das Mammut Mitja. 

„Tatsächlich ist das einzige Minus für die Menschen hier das Minus auf dem Thermometer. Aber ich mag dieses Klima“, sagt Andrei. „Der Süden mit seiner Hitze und Feuchtigkeit sagte mir nicht ganz so zu.“

Die Wintertemperaturen reichen von minus 30 bis minus 50, und der Frost kann von Herbst bis Frühling andauern und erst Ende Mai enden. Manchmal liegt bis weit in den Juni hinein Schnee auf den Straßen. 

„Das Klima hat sich verändert, sogar die Winter sind milder geworden. Außerdem fühlt es sich bei Windstille mit Temperaturen unter minus 50 nicht wirklich kalt an“, sagt Nadeschda Terentjewa. Sie wurde in eine Familie von Rentierhirten in der Nachbarstadt Labytnangi geboren und lebt seit 1984 in Salechard. 

„Die Kälte war hier lange vor den Menschen.“

Salechard ist die einzige Stadt der Welt, die direkt am Polarkreis liegt, bei 66 Grad 33 Minuten 39 Sekunden nördlich. Hier steht ein Denkmal mit dem Namen 66. Breitengrad. 

Dies bedeutet, dass es Polartage gibt, an denen die Sonne nicht über den Horizont steigt und es nicht richtig dunkel wird. Ebenso wird es während der Polarnächte nicht wirklich hell. 

Maria Fedtschenkowa ist Intensivärztin für Neugeborene. Sie lebt seit Ende 2019 im hohen Norden: Nach einer hektischen Zeit in einer Klinik in Kaluga (in Zentralrussland) suchte sie nach einem ruhigeren Ort. Und genau das ist Salechard. Sie ließ sich von den eisigen Temperaturen nicht abschrecken und investierte in warme Thermo-Unterwäsche und Filzstiefel.

Maria sagt, die Polartage und -nächte seien besonders gewöhnungsbedürftig gewesen. Die Schichtarbeit half ihr: „Nach 36-Stunden im Krankenhaus, spielte es keine Rolle mehr, ob nun draußen Tag oder Nacht war.“ 

Die Preise sind hier dreimal so hoch wie in Zentralrussland, hauptsächlich weil die Stadt weit entfernt von anderen Städten oder Bundesstraßen liegt. „Tomaten, die 500 Rubel (etwa 5 Euro) kosten, können noch gefroren sein“, sagt Maria. Es gibt nur einen Flughafen in der Stadt. Der nächste Bahnhof in der Stadt Labytnangi liegt am anderen Ufer des Flusses Ob. Im Sommer kann er mit der Fähre und im Winter übers Eis erreicht werden, da hier wegen des schwierigen Flussbettes noch keine Brücke gebaut werden konnte. Ende 2020 wurde eine ganzjährig befahrbare Straße in die Stadt Nadym eröffnet, und Salechard erhielt seinen ersten Supermarkt von einer der großen Ketten.

Um Patienten außerhalb von Salechard zu erreichen, einschließlich der Nomaden in der Tundra, wird Maria mit einem Flugzeug geflogen. „Die Kälte war lange vor den Menschen hier“, sagt sie. „Ich wollte lernen, unter rauen Bedingungen zu überleben, weiser und stärker werden.  Mir gefällt, was ich an diesem Ort erlebe.“

Tourismus jenseits des Polarkreises

Der hohe Norden zieht viele Touristen an: 2019 waren von den 200.000 Besuchern in der Region fast 9.000 Ausländer. Viele kommen hierher, um den wichtigsten Feiertag, den Tag des Rentierhirten, zu feiern. Schließlich ist Jamal auch das Zentrum der Rentierhaltung. Auf 550.000 Menschen kommen 700.000 Rentiere.  

Jedes Frühjahr ziehen Nomaden auf geschmückten Rentierschlitten nach Salechard und unterhalten die Touristen. Es werden traditionelle Gerichte wie Stroganina und Wild serviert, und jeder kann mit einem Rentierschlitten oder einem Schneemobil fahren. Touristen können sogar die Nomaden in die Tundra begleiten, um in einem Zelt aus Rentierhaut zu übernachten.

Wenn die Touristen Glück haben, können sie seltene Naturphänomene beobachten, zum Beispiel das Nordlicht oder den sogenannten Heiligenschein, wenn drei Sonnen gleichzeitig am Himmel auftauchen. 

Viele Touristen kommen, um die Überreste des unvollendeten Transpolar Highway-Projekts (Projekt 501) zu besichtigen. Er wurde von Gefangenen eines Arbeitslagers gebaut, das sich zwischen 1949 und 1954 außerhalb von Salechard befand.

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