Plattenbauten und Hardcore-Depression – Willkommen in der Welt der russischen Doomer

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WIKTORIA RJABIKOWA
Die Vertreter dieser neuen russischen Subkultur hörten einfach nur postsowjetische Musik und träumten von einem besseren Leben in einer postsowjetischen Umgebung. Plötzlich wurde ihre Ästhetik im Ausland populär.

„Ich habe mich immer zu Ruinen hingezogen gefühlt. <...> Leer stehende Gebäude, die von Menschen benutzt und dann aus irgendeinem Grund verlassen wurden <...> Menschen benutzen sich auch gegenseitig und geben dann einander auf und vergessen einander, wenn ihr Zweck erfüllt ist. <...> Ich bin beeindruckt von ihrer Vernunft, die so im Konsum verankert ist, dass sie die Leere, diese Torheit ihrer eigenen Bestrebungen und leeren Hoffnungen nicht bemerken.“ So fasst Alexander Kolessow, ein 27-jähriger Klempner aus Moskau, die philosophische Grundlage seiner Faszination für verlassene Häuser zusammen. An solchen Orten hört er traurige Lieder und schwelgt in tiefer Nachdenklichkeit.

Alexander und andere Russen, die sein Interesse teilen, nennen sich Doomer. Die russischen Doomer unterscheiden sich von Doomern aus anderen Ländern durch ihre Liebe zur postsowjetischen Ästhetik. Diese Liebe wurde unerwartet von Ausländern entdeckt: Videos mit dem Hashtag #Russiandoomers in ausländischen TikTok-Accounts verzeichnen bis zu 13 Millionen Aufrufe.

Ein Zufluchtsort für Depressive?

Der russische Doomer ist nichts anderes als eine Variante des westlichen Doomers, der 2018 auf der Website 4chan aufgetaucht ist. Ein russischer Doomer leidet unter seinen  Misserfolgen im Beruf und im Privatleben. Er sehnt sich nach seiner unbeschwerten Kindheit, die er in der russischen Provinz in schneebedeckten, dunklen Straßen zwischen verfallenen Plattenbauten verbracht hat. Am meisten genießt er nächtliche Spaziergänge und hört seine Lieblingslieder in einer Endlos-Schleife.

In ihren Communitys teilen die russischen Doomer ihre Misserfolge und unterstützen einander. In der Regel sind dies Geschichten über eine unerwiderte Liebe. Und viele drücken ihre melancholische Stimmung einfach dadurch aus, dass sie die Landschaften beschreiben, die sie jeden Tag beobachten.

„Es ist 7:00 Uhr morgens. Du gehst nach draußen, der Frost zwickt dich sofort ins Gesicht und du gehst die halbleeren Straßen im Licht einer Straßenlaterne entlang. <...> Der Schnee knirscht bei jedem Schritt. Am Straßenrand stehen düstere Plattenbauten, Wohnheime und Reihenhäuser. Auf der Straße kriechen vollgestopfte Obusse und Sammeltaxis dahin. Und du kommst nach Hause und es beginnt zu dämmern – die Sonne ist nur ein heller Fleck hinter den Wolken, der langsam nach oben steigt und die Straßen erhellt und auf die Fenster trifft. Und erst dann wachst du von diesem Anblick auf“, schreibt einer der Doomer.

Die Doomer haben auch ihre eigene Musik – meistens ist es sowjetische Rock der Perestroika- und Post-Perestroika-Zeit, aber auch Post-Punk und Synthiepop, der von Depeche Mode inspiriert ist. Fans der postsowjetischen Ästhetik veröffentlichen auf YouTube oft Playlists mit der Musik der russischen Doomer. Die Clips werden von einem nostalgischen Publikum aktiv kommentiert, und manchmal ist nur schwer zu unterscheiden, ob es gekonnte Ironie oder ein „sicherer Hafen“ für depressive Menschen ist.

Ein Schwelen, das Kraft verleiht

Glaubt man Alexander Kolessow, dessen Gedanken am Anfang dieses Textes wiedergegeben wurden, sind echte Doomer überhaupt nicht wegen der Nostalgie traurig. „Ein Doomer ist ein Mensch, der verstanden hat, wie alles funktioniert und was es braucht, um [im Leben] erfolgreich zu sein, aber er ist zu spät dran. Oft ist ein Doomer ein recht kluger Mensch, der nur deshalb nicht zeigt, dass er durchblickt, um keinen oberflächlichen Eindruck zu schinden. Ich habe ständig das Gefühl, überflüssig zu sein und die Leere des Lebens zu spüren. Aber ich meine nicht irgendwelche Außenseiter oder Verlierer, obwohl es [unter den Doomern] einen gewissen Prozentsatz solcher Leute gibt“, beteuert er.

Alexander Koroljow leitet die Community Russian Doomer Musicim russischen sozialen Netzwerk VKontakte. Urteilt man nach den Daten seiner Gruppesind die meisten Doomer in Russland Männer zwischen 16 und 21 Jahren. Und die Doomer-Communitys helfen dabei, die Schwierigkeiten des Lebens zu überwinden. „Nicht jeder kann sich Doomer nennen, das wäre Etikettenschwindel. Für mich und wahrscheinlich auch für andere Teilnehmer der Community ist das eher ein Seelenzustand. Die Leute mögen einfach die Ästhetik der Hochhäuser, die vor vielen Jahren gebaut wurden. Man schaut sie an und hofft, dass es vielleicht nach einer Weile besser wird. Das gibt dir Kraft für den morgigen Tag“, erklärt Koroljow.

Laut der Psychologin Olga Propubertat geben die Doomer-Communitys ihren Mitgliedern die Möglichkeit, sie selbst zu sein. „In der Welt ist es üblich, das Leben zu genießen und niemanden mit seinen Problemen zu belasten. Aber hier können sie Ihre Gedanken teilen und werden dafür nicht verurteilt. Ein Doomer muss nicht Glück und Erfolg ausstrahlen, er kann deprimiert sein, er hat wie jeder andere Mensch auch ein Recht auf negative Emotionen. Traurigkeit zuzulassen ist ein wichtiger Prozess in der Gesellschaft, den wir anstreben sollten“, ist die Psychologin sich sicher.

Die echten Doomer stammen aus Russland

Russische Doomer wurden unter den Bewohnern Europas und der USA durch ihre Lieblingsmusik populär: Rock der späten Achtzigerjahre und Post-Punk heutiger Bands. Der Song Súdno (Das Schiff) der Band Moltschát domá (Die Häuser schweigen) aus Belarus, der im Januar 2019 auf YouTube veröffentlicht wurde, wurde fast 20 Millionen Mal angehört, die meisten Kommentare unter dem Track stammen von ausländischen Usern. Im Mai 2020 erreichteSúdno den 2. Platz in den weltweitenViral 50 Charts auf Spotify.

Das Lied wurde auch auf TikTok populär: Menschen aus der ganzen Welt nahmen 163.000 Videos dazu in dem sozialen Netzwerk auf, unter den beliebtesten waren Parodien auf Russen, Trends mit Cross-Dressing und...Tutorials, wie man Achselhaare färbt. Und das trotz des düsteren Textes:  „Es ist schwer und unangenehm zu leben, aber es ist bequem zu sterben“.

„Das ruft zwiespältige Gefühle gegenüber diesem TikTok-Trend hervor, weil man sieht, dass die Leute nicht verstehen, worum es bei dem Songtext geht. Auch wenn das von außen alles ein bisschen wild aussieht, ist es total angenehm, dass die Leute deinen Song ausgewählt haben“, bekannte Pawel Koslow, der Bassist von Moltschát domá, in einem Interview mit Afischa Daily im August 2020.

Währenddessen verstehen die ausländischen Hörer selbst nicht ganz, warum sie von der Musik der russischen Doomer so angezogen werden und stellen selbst diese Frage in ihren Kommentaren zu den einschlägigen Playlists auf YouTube. Andere User glauben, dass nur diese Kultur die Gefühle aller Menschen vermitteln kann.

„Das ist wie das Gefühl, das man hat, wenn man sich seinen Lebenstraum erfüllt und dann feststellt, dass es einem dadurch überhaupt nicht besser geht“, ist Simon McGough sich sicher.

Der User Roger King glaubt, dass es an der Eigenheit der russischen Kultur liegt – „Weil Russland und die Russen einen so schönen Vibe haben, der dazu passt, wie sich westliche Männer in der postindustriellen Phase des Kapitalismus fühlen. Wir gehen langsam kaputt und schreien stumm“, schreibt er.

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