„Arbeitskraft zur Miete, preiswert“: Warum bieten Russen sich stundenweise an?

Russia beyond; Legion media
Stellen Sie sich vor: Sie schauen sich eine Seite mit Kleinanzeigen an und plötzlich sehen Sie zwischen den Inseraten mit Staubsaugern und alten Pelzmänteln „Ich vermiete mich selbst, 150 Rubel (2 €) pro Stunde“. Solche Anzeigen findet man zunehmend auf russischen Kleinanzeigenseiten wie Awito oder Jula. Wegen der Pandemie scheint deren Zahl offenbar zuzunehmen.

Geld verdienen und die Einsamkeit bekämpfen

„Ich habe mit dieser Tätigkeit im April 2020 begonnen, zu Beginn der Corona-Quarantäne – da wurde mir bewusst, was Isolation anrichten kann. Normalerweise bin ich Musiker und verdiene mein Geld mit Betriebsfeiern und Partys, aber in letzter Zeit ist mein Einkommen wegen des Verbots von Massenveranstaltungen stark gesunken, und ich muss irgendwie Geld verdienen“, sagt Timur, ein 23-jähriger Musiker.

Für 150 Rubel pro Stunde (umgerechnet ca. 1,70 €) kann man mit Timur online oder am Telefon reden, sich über das Leben beschweren oder um Rat fragen – solche Dienste werden von den meisten Menschen angeboten, die sich auf der Awito-Website anbieten. Für ein Honorar in Höhe von 500 Rubel pro Stunde (5,60 €), können Sie sich mit Timur verabreden und ihn persönlich kennenlernen. „Wir können auch zusammen etwas trinken – lass uns die Einsamkeit gemeinsam besiegen!“, schreibt der Musiker in seiner Anzeige.

Timur hat 3 – 4 Anrufe von potentiellen Kunden pro Tag, Live-Meetings kommen seltener vor (es waren bisher nicht einmal fünf). Die meisten Kunden sind junge Frauen zwischen 16 und 28 Jahren und Männer zwischen 25 und 40 Jahren. Diese Tätigkeit könne die finanziellen Schwierigkeiten nicht vollständig lösen, aber sie helfe zu verstehen, was die Menschen wirklich stört, glaubt der Musiker. „Das häufigste Problem sind Beziehungen. Mädchen klagen über Vernachlässigung und Einsamkeit, während Männer über häusliche – sowohl seelische als auch physische – Gewalt durch ihre Ehefrau oder Freundin klagen. Sie alle haben das Bedürfnis, sich zu äußern und sich auszuheulen, aber [sie haben] Angst, dass ihre Bekannten sie auslachen. Seltener geht es um die Arbeit oder das Studium, und nur sehr wenige wollen einfach nur über Gott und die Welt plaudern“, beschreibt Timur seine Kunden.

Der Musiker schließt die Möglichkeit einer intimen Beziehung zu einem Kunden nicht aus. Er erzählt, dass ihm zwei Männer Sex angeboten haben, aber er lehnte ab, und nun korrespondiere er mit einem Mädchen, das ihm sympathisch sei, und er hoffe auf ein Treffen. „Warum nicht, ich bin schließlich ein freier Mann“, argumentierte der Rapper.

„Chillende Frauen“ und Süßholzraspler für eine Stunde

Auf der Website Jula ist eine Anzeige mit der Überschrift MensRent zu finden, die ein Foto von drei Männern mit weißer Maske zeigt, die deren Gesichter komplett verdecken.

Die Jungen nennen sich selbst Rodrigo, Prochor und Pablo. Für 1000 Rubel (11,20 Euro) ist jeder von ihnen bereit, im Anzug mit einem Blumenstrauß für 20 Minuten bei der Kundin vorbeizuschauen und so zu tun, als wäre er ein Freund: Er umarmt sie (aber nicht mehr als das), plaudert mit ihr und schießt ein paar Fotos für Instagram – junge Frauen nehmen diesen Dienst in Anspruch, um ihren Ex zu verärgern, ihre Freundinnen eifersüchtig zu machen oder weil sie sich als alleinstehende Frau einfach nur amüsieren wollen.

Normalerweise arbeiten die Jungen im technischen Bereich, als Ingenieure und Programmierer. Bisher hatten sie nur etwas mehr als ein Dutzend Aufträge, aber sie hoffen, von großen Marken wahrgenommen zu werden, mit denen sie in Zukunft zusammenarbeiten können.

„In Russland konnte man bereits Rosensträuße für Fotos zu mieten. Nun haben wir beschlossen, diese Geschäftsidee auszubauen und zu skalieren. Die Kampagne war exklusiv für den 14. Februar geplant und wenn sie erfolgreich ist, werden wir diese Idee am 8. März [dem Internationalen Frauentag] nochmals realisieren. Wir haben uns überlegt, unsere Masken abzunehmen, aber jeder soll sich schließlich an uns erinnern und über uns sagen: „Oh, das sind wieder die Jungs mit den Masken!“

Es gibt Dutzende von Anzeigen wie diese. Die meisten von ihnen werden von Männern aufgegeben und bieten ihre Leistungen für 100 Rubel (1,12 €) bis 5.000 Rubel (56 €) pro Stunde an.

Eine der wenigen Inserate von Frauen zeigt das Bild einer nicht mehr ganz jungen Blondine mit ihren zwei Töchtern. Am Anfang der Anzeige bietet sich Alisa scherzhaft zur Miete an „als eine Person, die nichts tut“. Für 500 Rubel die Stunde ist sie bereit, zu babysitten, mit jemanden gemeinsam zu Abend zu essen, einen Kuchen zu backen, beim Wohnungskauf zu helfen, auf Arbeit für jemanden einzuspringen, die Wohnung zu entrümpeln oder einen Vamp in Highheels zu spielen, um eine Ex oder Zukünftige eifersüchtig zu machen.

Alice beantwortete meine Fragen zu ihrem Nebenjob und ihren Kunden nicht, sondern schickte mir stattdessen die folgende feurige Rede:

„Sie würden staunen, wie stark wir Frauen in Russland sind. Dies sind keine herzerwärmenden Geschichten über Familie und Scheidung. Mein Leben verdient, dass aus diesem Motiv nicht nur ein Film, sondern ein Meisterwerk geschaffen wird“ – und loggte sich aus dem Netz aus.

Einige Anzeigen für die „Vermietung“ einer Person seien eigentlich Werbung für Online-Sitzungen mit professionellen Psychologen, glaubt Alexander, einer der Autoren der Anzeigen. „Ich vermiete mich eigentlich nicht – das ist nur eine populäre Interpretation. Ich habe eine Hochschulausbildung und führe psychologische Beratungen durch“, erklärt Alexander.

Vom Scherz zum Verbrechen

Manchmal gibt es auf Websites auch Anzeigen über den Verkauf von Personen, einschließlich Minderjähriger. Am 28. Januar 2021 berichtete Natalia Gankina, die Beauftragte für Kinderrechte in Burjatien, über eine Anzeige mit Foto auf der Website Awito für den Verkauf eines Schulkindes.

„Schon bald hatten die Polizeibeamten Jugendliche aus dem Bezirk Kjachtinskij ermittelt, die sich auf diese Weise einen Scherz mit einem Mitschüler erlaubt hatten. <...> Das Inserat zum Verkauf des Minderjährigen wurde entfernt. Mit Kindern und Eltern wurden präventive Gespräche geführt“, schrieb Gankina in ihrem Facebook-Account.

Im Juni 2020 gab ein Einwohner von St. Petersburg eine Anzeige zum Verkauf seines Sohnes in der Rubrik Tiere auf, nach Angaben des Vaters – zu Erziehungszwecken, berichteteInterfax. Die Anzeige lautete: „Kleiner Quälgeist sucht neue Eltern. Er mag es zu lügen, unverschämt zu sein und zu stehlen“. Der Vater wurde zu einer Geldstrafe von 3.000 Rubel (33,70 €) verurteilt.

Es gab auch tatsächliche Versuche, Kinder zu verkaufen. Im Dezember 2019 wurde Julia Schtscheglowa aus Kasachstan zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt, weil sie versucht hatte, ihren sieben Monate alten Sohn auf einer Anzeigen-Website für 1,2 Millionen Rubel (fast 13.500 €) zu verkaufen, berichtete der Fernsehsender NTV. Auf das Inserat wurden Ermittler in Moskau aufmerksam und unter dem Vorwand, das Baby kaufen zu wollen, überredeten sie Julia, mit dem Kind nach Moskau zu kommen. Bei dem Treffen erklärte Schtscheglowa, wie sie sich um das Kind kümmert, schrieb einen Verzicht auf die elterlichen Rechte und verlangte, dass Geld auf ihr Bankkonto zu überweisen; sie wurde direkt in der Bank festgenommen.

Eine andere Frau, eine 36-jährige Bewohnerin der Region Stawropol, versuchte im Dezember 2019, ihr neugeborenes Baby für 440.000 Rubel (4.940 €) über soziale Medien zu verkaufen, berichtete die lokale Abteilung der Untersuchungsbehörden. Eine andere Frau sah das Inserat, kontaktierte die Strafverfolgungsbehörden und konnte im Rahmen einer Sonderaktion das Kind „freikaufen“. Die Mutter wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, berichtete der Fernsehsender Ren-TVunter Berufung auf das Bezirksgericht.

Russia Beyond erkundigte sich beim Pressedienst der Anzeigenabteilung von Awito und Jula über die Qualitätssicherung für Anzeigen sowie Statistiken über den illegalen Verkauf von Menschen und die Bereitstellung von illegalen Dienstleistungen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes lag noch keine Antwort auf die Anfrage vor.

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