Dieser Text enthält Beschreibungen von Erniedrigung und Gewalt gegen Menschen. Die Redakteure von Russia Beyond billigen keine dieser Erniedrigungen, aber ohne sie wäre es unmöglich, eine plausible Darstellung der Struktur der russischen Trash-Shows zu geben. Leser mit schwachen Nerven werden gebeten, diesen Text nicht zu lesen!
Ein kleiner Raum in einem Privathaus im Moskauer Umland. Ein betrunkener junger Mann und zwei junge Frauen. Auf dem Tisch eine halb geleerte Flasche Whisky, in der oberen rechten Ecke eine Einblendung: Whisky trinken – 200 Rubel (2,16 €), Zungenkuss – 1.000 Rubel (10,82 €).
„Welche von uns ist die Beste?“, fragt die junge Frau mit hellrosa Haaren den Mann. „Marina ist definitiv top“, antwortet der Mann und zeigt auf ihre Freundin. Wütend über die Antwort stürzt sich die Rosahaarige mit geballten Fäusten auf den Kerl, fällt aber nach einer Minute zu Boden und verschwindet aus dem Bild. Bald darauf hört man sie rufen „Bestellt mir ein Taxi!“ und der Stream wird für mehrere Stunden unterbrochen.
Als die Übertragung wieder startet, ist zu sehen, wie der Streamer das bereits tote, halbnackte Mädchen schüttelt, ihren Kopf streichelt und sie unter Tränen bittet, aufzuwachen. Danach beantwortet er die Fragen der Zuschauer, während im Hintergrund die Leiche des Mädchens liegt. Der Mann filmt auch das Gespräch mit den am Unfallort eintreffenden Notärzten.
Dieser Stream des Bloggers Stas Reschetnikow wurde in der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember 2020 übertragen. Unter den Spitznamen Reeflay oder Panini verdient er Geld mit Sendungen, die in Russland als Trash-Streams bezeichnet werden. Nach Angaben der Ermittlungsbehörden wurde bei der jungen Frau eine gedeckte Schädel-Hirn-Verletzung und mehrere Prellungen festgestellt. Am 4. Dezember 2020 nahm das Stadtgericht Ramenskij den Blogger für zwei Monate in Untersuchungshaft. Nach diesem Fall schlug der Föderationsrat, die obere Kammer des Parlaments, ein gesetzliches Verbot von Trash-Streams vor.
Wie sind diese Übertragungen arrangiert, was wird sonst noch gezeigt und wer ist bereit, für Live-Gewalt zu bezahlen?
In der Regel handelt es sich bei Trash-Streams um Live-Übertragungen mit Erniedrigung und Gewalt. Während solcher „Partys“ spenden die Zuschauer im Durchschnitt 50 – 200 Rubel (0,54 – 2,16 €). Für größere Beträge sind die Streamer bereit, jemanden zu schlagen, mit Urin zu übergießen oder eine Zigarette an sich selbst oder einer anderen Person auszudrücken.
Während einer der Streaming-Shows im Jahr 2013 lieferte Kirill Syrjanow, mit dem SpitznamenVjlink, sich volltrunken eine Live-Schlacht mit einem Freund, verlor dabei einen Zahn und wurde dadurch sehr populär. Kirill fuhr fort, alkoholisiert Streams mit Schlägereien zu produzieren und begann bald, für Spenden Aufgaben seiner Abonnenten zu erfüllen – so übertrug er die Operation zur Vergrößerung seines Penis (das Organ selbst war verpixelt).
Der Blogger wies darauf hin, dass das Video ausschließlich zu wissenschaftlich-medizinischen Zwecken veröffentlicht wurde; das YouTube-Material ist bis heute abrufbar. Die Live-Übertragung wurde damals von 90.000 Menschen verfolgt.
Die Streamer sind oft bereit, einen Teil ihrer Einnahmen für das Erfüllen von Aufgaben mit anderen Teilnehmern zu teilen. So lud beispielsweise Andrej Burim, ein Blogger mit dem Nickname Mellstroy, Mädchen zu Partys in der Moskauer Innenstadt ein und bot Geld für die Erfüllung von Aufgaben.
Einem der Mädchen schlug er während des Streams im Oktober 2020 mehrmals den Kopf gegen den Tisch – woraufhin YouTube seine Kanäle sperrte und die Polizei ein Strafverfahren eröffnete. Der Blogger streamt jedoch weiterhin auf Backup-Kanälen und veröffentlicht Inhalte auf seinem Telegram-Kanal.
Ein anderer Trash-Streamer, Iwan Firenikow, macht sich für Spenden der Zuschauer über Obdachlose lustig – er schlägt ihnen mit einer Schöpfkelle auf den Kopf, füttert sie mit Whiskas und lässt sie miteinander kämpfen. In der Kanalbeschreibung heißt es, dass Iwan sich mit der Umerziehung von Obdachlosen beschäftige. Er ist der einzige im Text aufgeführte Trash-Streamer, der auf die Anfrage von Russia Beyond reagierte, aber nur für Geld bereit war, ein Interview zu geben.
Eines der beliebtesten „Opfer“ ist der 32-jährige Valentin Ganitschew. Er nimmt an verschiedenen Streamer-Sendungen teil, bei denen er mit Eiern beworfen oder lebendig begraben wird und manchmal sogar Abfälle essen muss. In den meisten Sendungen ist Valentin von Alkohol oder anderen Drogen berauscht, oft weint er und bittet um Hilfe.
Die Zuschauer glauben, dass Valentin von den Streamern festgehalten und dazu gezwungen wird. Die Polizei führte eine Kontrolle in dieser Angelegenheit durch. Ohne Erfolg. Später erklärteValentin selbst, dass er freiwillig an diesen Aktionen teilnehme.
YouTube und Twitch sperren regelmäßig Kanäle mit den Demütigungen, die Valentin und anderen Personen zugefügt werden. Aber die Streamer eröffnen Backup-Kanäle und die Fans posten die Inhalte in Telegram-Kanäle und auf verschiedene Filesharing-Seiten weiter.
„Sie sollten alle eingesperrt werden, außer Valentin, weil er psychisch krank ist. Das, was da gezeigt wird, ist doch alles Sadismus von der schlimmsten Sorte“, meint Anton, ein 25-jähriger Wachschutzmann, der sich regelmäßig die Trash-Streams ansieht. Er begann damit während seiner Schichten – aus Langeweile. „Es hat mich gereizt, lebendige und ungespielte Emotionen zu sehen. Man kann sich das endlos anschauen – es ist wie im richtigen Leben“, erklärt Anton.
Und die 16-jährige Schülerin Polina denkt über die Streamer: „Vor zwei Jahren gab es eine Menge lustiger Witze, wie zum Beispiel, dass sie über den Tod der Mutter einer der Mitwirkenden gelacht haben. Nun, in solchen Live-Shows zeigen die Leute ihr wahres Gesicht – man sieht, was sie für Geld zu tun bereit sind“. Die Witze zum Thema Tod der Mutter betrafen den erwähnten Valentin Ganitschew. Zuschauer schickten dazu Spenden mit dem Kommentar, dass seine Mutter aus dem Jenseits schreibe. Valentin weinte darüber. Polina ist der Meinung, so etwas sei lustig.
Der User xbpm_music, der in Deutschland arbeitet, sagt, dass er in den Charakteren der Trash-Streams etwas „ursprünglich Russisches“ spüre und solche Live-Übertragungen ihm helfen, Russland nicht so sehr zu vermissen. „Es macht mir Spaß, typisch russischen Idioten zuzusehen. Und dann denke ich manchmal dabei: ,Verdammt, ich muss dringend etwas Gutes tun, sonst werde ich wie sie‘. Ist das nicht eine gute Motivation?“
Das Beobachten von Gewalt und die Freude an der Anwendung von Gewalt sind laut der praktizierenden Psychologin Aljona Al-As gleichermaßen psychische Abweichungen. Ihrer Meinung nach befriedigen auf diese Weise Streamer bei sich und ihrem Publikum das Bedürfnis nach Gewalt .
„Das Publikum ist der Typ Couchboxer – jemand, der seine Frau verletzen will, aber weiß, dass sie die Polizei rufen würde. Außerdem sitzen auf der anderen Seite des Bildschirms oft Menschen, die im echten Leben geschlagen und gedemütigt wurden. Die Erkenntnis Ich bin nicht der Einzige, der gemobbt wurde hilft vielen Menschen, sich aus den Tiefen des Grolls, des Schmutzes und der kaputten Seele empor zu klimmen“, erklärt die Psychologin.
Laut ihrer Kollegin Ljubow Kalinowskaja verwirklichen auch die Zuschauer ihre geheimen Wünsche – sie ist überzeugt, dass die Zuschauer die eigentlichen Haupthelden der Streams sind, weil sie die Blogger mit Hilfe von Spenden kontrollieren können.
„Trash-Streams sind für viele Menschen so besonders, weil jeder von ihnen die Realität des Geschehens garantiert, und man weiß nie, wie alles enden wird. Dadurch spürt man ein starkes Gefühl der Aufregung – der Betrachter entscheidet, wie ein antiker Römer im Amphitheater, ob der Gladiator überleben wird oder nicht“, sagt Kalinowskaja.
Der Psychologe und Unternehmensberater Alex Ivanhoe ist überzeugt, dass solche Sendungen keine therapeutische Wirkung haben und die Zuschauer und Streamer selbst noch gewalttätiger werden lässt.
„Beim Trash wird der Zuschauer ,süchtig’ nach der Show und verlangt jedes Mal nach mehr. Im ,Idealfall’ kommt es im Live-Stream zu einem brutalen Tod, einer Vergewaltigung oder Leichenschändung. In Zukunft werden wir es wahrscheinlich mit einer professionellen
Studioarbeit, aufgenommen aus der Ich-Perspektive, zu tun bekommen, damit der Betrachter
sich nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Mörder oder Opfer ,fühlen’ kann“, glaubt Ivanhoe.
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