Ljuba aus der Region Tschita in Burjatien wollte eins werden mit der Natur. Im Frühjahr zog sie sich ohne Kleidung zurück in die Taiga. Drei Tage später wurde sie tot aufgefunden. Sie war erfroren. Kapitolina hatte Krebs. Sie glaubte, er würde verschwinden, wenn sie nichts mehr aß. Sie hungerte sich zu Tode. Mina Mikowa hat sich unter einem Porträt von Wissarion das Leben genommen.
Diese drei Todesfälle sind nur einige, an die sich ehemalige Anhänger der Kirche des Letzten Testaments und ihres Anführers Sergei Torop, der sich Wissarion nennt, in den Sozialen Medien erinnern.
Seit fast 30 Jahren existiert diese Sekte mitten in der Taiga wie ein eigenständiger Staat. Sie lebt nach ihren eigenen Regeln und hat sich vom Rest der Welt abgeschirmt. Informationen über das Leben in der Siedlung dringen vor allem durch Aussteiger nach draußen. Diese Menschen haben die Sekte des ehemaligen Verkehrspolizisten Torop desillusioniert verlassen und wollten zurück in die Gesellschaft.
Inzest, Pädophilie, Menschen, die in den Selbstmord getrieben wurden, Mord und andere Verbrechen: Diese Vorwürfe fallen in Zusammenhang mit der Sekte. Außenstehende Beobachter sind ratlos und fragen sich, wie es sein kann, dass innerhalb der Russischen Föderation eine solche Parallelgesellschaft existieren kann, ohne dass irgendjemand eingreift.
Sergei Torop wurde nach seinem Ausscheiden aus der Verkehrspolizei Stammgast in einem sibirischen Ufo-Club und suchte einige Zeit „Kontakt“ zu Außerirdischen in sogenannten anomalen Zonen. Später beschäftigte er sich mit Psychologie. 1991 erlebte er sein „spirituelles Erwachen“ und erklärte sich zum neuen Messias.
Sergei Torop
Alexander Rjumin/TASSVor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in der untergegangenen UdSSR, in einem Umfeld von Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung und Werteverfall, fanden die Verheißungen des damals 30-jährigen „Jesus“ von universellem Glück in der fernen Taiga und auch die Prophezeiungen eines nahen Weltuntergangs ihr Publikum.
Im Süden der Region Krasnojarsk, in der Nähe des Tiberkul-Sees und des Berges Suchaja, die er beide zu Heiligtümern erklärte, gründete Torop, der sich nun Wissarion nannte, seine Gemeinde. Beim russischen Justizministerium ist sie offiziell als religiöse Organisation unter dem Namen Kirche des Letzten Testaments registriert.
Etwa 5.000 Menschen machten sich auf den Weg in die Taiga, um sich dort niederzulassen und die sogenannte „Wohnstätte der Morgendämmerung“, auch „Stadt der Sonne“ genannt, zu errichten. Viele verkauften ihr Eigentum und andere Vermögenswerte und steckten ihr ganzes Geld in das gemeinsame Siedlungsprojekt. Augenscheinlich freiwillig. Doch schon bald stellte Wissarion Regeln auf.
Die Kirche des Letzten Testaments vereint eine ganze Reihe von Religionen und Weltanschauungen - vom Hinduismus und Buddhismus bis zur Apokalyptik und den atheistischen Lehren von Karl Marx. Wissarion wird als Führer uneingeschränkt anerkannt. Seine Anweisungen werden nicht hinterfragt.
Wissarion erließ eine Reihe von Ernährungsvorschriften: Der Verzehr von Fleisch und tierischen Eiweißen wie in Milch, Eiern usw. wurde verboten. Die Sekte glaubt, dass nach dem Schlachten eines Tieres eine „aggressive Energie“ in seinen Zellen verbleibt. Im September 1994 wurden Verbote für Pflanzenöl, Tee, Grieß und eine Reihe von Körnern erlassen. Ausnahmen wurden nur für schwangere Frauen gemacht.
Wissarion selbst trat nicht oft öffentlich auf. Wenn er es tat, achtete er auf Distanz. Er lebte zusammen mit seinen engsten Vertrauten, den „Aposteln“ auf dem Berg. „Erlösung“ war seine Schlüsselidee. Immer wieder prophezeite er den Weltuntergang und nannte sogar konkrete Daten. Wenn nichts geschah, warf er buchstäblich die Hände in die Luft und sagte: „Ich habe nichts versprochen“ und legte einen neuen Termin für die Apokalypse fest.
Im August 1999 hielt er eine Predigt zum Thema Liebe. „Ich möchte zeigen, wie man auf schöne Weise liebt“, sagte er. Er erklärte, da die Frau ohne Mann nicht vollständig sei, könne ein Mann so viele Frauen haben, wie er wolle. Dreiecksbeziehungen entstanden innerhalb der Gemeinschaft. Dadurch fielen einige Familien auseinander. Wissarion selbst trennte sich von seiner bisherigen Ehefrau und wandte sich einer 16-jährigen zu.
Eine weitere Regel der Gemeinde war, dass die Kinder die Dorfschule nicht besuchen durften und die Gemeindemitglieder keine medizinische Hilfe außerhalb in Anspruch nehmen durften. „Ich erinnere mich genau an dieses Gebot, Nr. 37, das besagte, dass alle unsere Beschwerden auf geistiger Disharmonie beruhen. Deshalb muss ein Ungläubiger noch nicht und ein Gläubiger nicht mehr behandelt werden“, erklärt Jelena Melnikowa. Dieselbe Logik galt auch im Bildungsbereich: Wer glaubt, brauche nicht viel mehr zu lernen.
Wissarion wusste, dass sich die Zeiten änderten und auch die Gemeinde sich ändern musste.
Die Kirche des Letzten Testamentes stand einmal kurz vor einem Verbot. Lokale Ärzte und Lehrer forderten eine gerichtliche Untersuchung. Jedoch wurde dieser Forderung nicht nachgekommen. Der Fotograf Juri Kosirew, der die Gemeinde seit Jahren besucht, glaubt (rus), dass die Strafverfolgungsbehörden ernsthaft besorgt waren, dass eine Untersuchung und womöglich Verhaftungen innerhalb der Gemeinde zu einem Massenselbstmord hätten führen können. „Wissarion hat die Gefahr durch die Behörden erkannt. Er hat die Sekte daraufhin in die Tiberkul-Öko-Siedlung umbenannt. Dort leben Veganer. Es gibt also keinen Grund, sie zu behelligen, so seine neue Botschaft.“
Tatsächlich funktioniert das Leben in der Gemeinde wie bisher. Sie steht auch weiter unter Beobachtung. Laut Wadim Redkin (rus), der für die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde zuständig ist, wurde der Kirche von Beginn an ein „Fallmanager“ vom FSB zugewiesen. Inzwischen habe man „geschäftsähnliche Beziehungen“, so Redkin. „Ich bin seit 1992 hier. In all den Jahren gab es eine sehr große Zahl verschiedener Fallmanager“, sagt er.
Die lokalen Behörden hatten ebenfalls wenig Bedenken. Dies wurde durch die Tatsache unterstützt, dass Wissarion seit Anfang der 2000er Jahre Mobiltelefone, Fernseher und Arztbesuche erlaubte. Die Gemeinde eröffnete eigene Schulen für die Kinder. Alles wirkte tatsächlich mehr wie eine Öko-Siedlung und nicht wie eine Sekte.
Darüber hinaus wurde die Zusammensetzung der Gemeinde im Laufe der Jahre weniger homogen. Immer weniger Anhänger glaubten an das Ende der Welt. Sie mochten einfach das Leben in ihrer ökologischen Gemeinde. Sogar diejenigen, die Wissarion äußerst skeptisch gegenüberstanden, blieben deshalb dort. „Er sagte uns, wir sollten nicht am Geld hängen. Er selbst flog zu medizinischen Behandlungen nach Israel oder Taiwan. Aber warum sollte Jesus überhaupt eine medizinische Behandlung benötigen?!“ sagte (rus) eine der „desillusionierten“ Bewohnerinnen der Gemeinde, Tatjana Choljawko.
Außenstehende durften in die Siedlung kommen und die Kirche des Letzten Testamentes begann, die lokalen Behörden aktiv zu infiltrieren und sich in die lokale Elite zu integrieren. Sie lieferten erstklassiges Holz für den Bau schöner Häuser und Menschen mit Geld nahmen ihre Dienste gerne in Anspruch. Wissarion wandte sich nicht mehr jeden Monat an seine Gemeinde, sondern nur noch gelegentlich. Die Botschaft blieb dieselbe: Der Weltuntergang ist nah, doch die Rettung ebenfalls.
In den letzten zwei Jahren haben die Strafverfolgungsbehörden jedoch begonnen, der Kirche des Letzten Testamentes wieder besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Das begann vermutlich mit dem Tod zweier Säuglinge innerhalb der Sekte. Im Sommer 2018 durchsuchten Ermittler das Haus der Familie Nasemzew nach dem Tode ihres zehn Monate alten Sohnes. Gleichzeitig beschäftigten sich die Ermittler mit der Familie Karmanow, deren Kind zuvor an einer Lungenentzündung gestorben war. In einem Bericht (rus) des Fernsehsenders „REN TV“ wurde außerdem berichtet, dass die Entdeckung einer Kinderleiche die Untersuchungen in Gang gebracht habe.
Es folgten eine ganze Reihe von Ermittlungen. „Im Jahr 2019, als alles begann, tauchten die Ermittler auf und sagten: ‚Das war es, niemand schützt Euch mehr‘. Alle hochrangigen Mitglieder wurden im Herbst verhaftet“, berichtet Redkin.
Es gibt aber auch andere Theorien. Im Laufe so vieler Jahre hat sich das Gebiet zum führenden Zentrum des Holzeinschlags in Russland entwickelt, und die Wissarioniten glauben nun, dass sie „aus dem Geschäft gedrängt“ werden sollen. Ein weiterer Grund könnte der Protest (rus) der Anwohner gegen Baumfällungen zum Bau einer Straße durch zuvor unberührte Gegenden gewesen sein. Durch die Straße sollte der Zugang zu Goldabbaugebieten ermöglicht werden.
Mitte September 2020 trafen Teams von FSB-Spezialeinheiten in Hubschraubern ein und versiegelten die „Stadt der Sonne“. Torop und Redkin wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft fordert ein Verbot der zuletzt 4.500 Mitglieder zählenden Kirche des Letzten Testamentes. Das letzte Wort haben nun die Gerichte.
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