Ende September 2000 kommen zwei Mädchen nachts aus einer Disco im Zentrum von Rjasan: die 14-jährige Jekaterina (Katja) Martynowa und die 17-jährige Jelena (Lena) Samochina. Ein Auto hält neben ihnen an, der Fahrer ist ein Mann in den Fünfzigern, auf dem Beifahrersitz befindet sich – wie es ihnen scheint – ein junger Mann (später stellt sich heraus, dass es eine kurzgeschorene Frau ist). Ihnen wird Alkohol angeboten und eine Spritztour vorgeschlagen. Sie steigen ins Auto... und fast vier Jahre lang erfährt niemand etwas über sie.
Katja Martynowa (links) und Lena Samochina
Aus dem PolizeiarchivDer Fahrer, der 50-jährige Wiktor Mochow, hatte drei Jahre vor jener Nacht mit dem Bau eines unterirdischen Bunkers in der Nähe seines Hauses in der Stadt Skopin (270 km südöstlich von Moskau)begonnen. Hierher brachte er Katja und Lena. Der Bunker wurde für drei Jahre und sieben Monate zu ihrem Gefängnis. Nachdem er die Mädchen geschlagen hatte, fuhr Mochows Begleiterin, Jelena Badukina, weg und kehrte nie zurück. Mochow vergewaltigte die beiden Mädchen in dieser Zeit mehr als 900 Mal. Beim kleinsten Fehlverhalten verweigerte er ihnen Essen und Wasser, schaltete das Licht im Bunker aus und sprühte Tränengas hinein. Lena war dreimal schwanger: Zwei Kinder brachte sie in ihrer Gefangenschaft zur Welt, das dritte kam tot zur Welt, als sie den Bunker verließ.
Im Mai 2004 wurden sie befreit: Katja hatte einem Mädchen, das ein Zimmer bei Mochow gemietet hatte, einen Zettel zukommen lassen. Der „Vergewaltiger von Skopin“, wie Mochow in den Medien genannt wurde, wurde zu 16 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Im März 2021 wurde er aus dem Gefängnis entlassen und begab sich aus der Strafkolonie direkt in eine TV-Show.
Am 22. März veröffentlichte die Fernsehmoderatorin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ksenia Sobtschak ihr Interview mit Wiktor Mochow unter dem Titel Gespräch in der Freiheit auf ihrem YouTube-Kanal. Innerhalb weniger Tage erzielte es über 3 Millionen Views, spaltet die Gesellschaft und ließ die Ermittlungsbehörden aktiv werden.
Zu Beginn des Interviews gibt Mochow zu, dass ihn diese Aufmerksamkeit der Journalisten anturnt. „Ich habe schließlich meine Schuld abgebüßt. Soll ich nun mein ganzes Leben lang leiden? Den Mädchen geht es jetzt gut und das freut mich“, erklärt er. Auf die Frage, ob er sich für einen guten Menschen halte, antwortet der heute Siebzigjährige: „Nun, ich habe einen kleinen Fehltritt begangen – wem passiert das nicht?“
Im Interview unterhält sich Sobtschak auch mit dem Ermittler der Rjasaner Staatsanwaltschaft sowie mit Katja Martynowa, einem der Opfer. Mochows Aussagen werden von einem unabhängigen Experten und Profiler kommentiert, der mit dem FSB zusammenarbeitet. Dabei zeigt das Interview kaum, wie die Ermittlungen geführt wurden, und widmet stattdessen den Details der Vergewaltigungen und dem Sexualleben Mochows übermäßig viel Aufmerksamkeit: wie er entschied, welche der Frauen er vergewaltigt; wie er sie zum Sex zwang und in welcher Stellung; welche Pornofilme er bevorzugt und was sein erstes sexuelles Erlebnis war.
Katja Martynowa (links) und Moderatorin Ksenia Sobtschak
Ksenia SobtschakMit fröhlicher Stimme erklärt Mochow, dass er die jungen Frauen gerne treffen, sie um Verzeihung bitten und seine Kinder, die von Jelena geboren wurden, finden wolle. Er sagt, dass er in Katja verliebt und eine Geisel der Situation gewesen sei: „Ich befand mich in einem Dilemma – töten konnte ich sie nicht, gehen lassen aber auch nicht. So endete ich als Geisel. Und sie litten, und ich litt.“
An einer Stelle sagt er, dass er bereit sei, Lena bei der Zeugung eines Kindes zu helfen: „Sie hat von mir zwei Kinder geboren und danach nicht mehr. Also, ich weiß nicht… Ich sollte mich wohl wieder um sie kümmern.“
In Russland gibt es viele TV-Shows, Serien und Programme über alle möglichen durchgeknallten Typen. Doch dieses Mal sorgte diese Offenheit in den sozialen Medien für einen Shitstorm.
„Ksenia Sobtschak hat einen absolut unethischen, monströsen Film über den Vergewaltiger von Skopin produziert, in dem sie selbst die Hauptrolle spielt. <...> Ich bitte alle meine Freunde und Abonnenten: Lasst uns diesen Film NICHT sehen, lasst seine Rating nicht steigen! Stattdessen solltet ihr euch über diesen Film beschweren, damit YouTube ihn sperrt“, schreibt die Userin Daria Tschaban.
Aljona Popowa, Mitbegründerin des Frauenselbsthilfenetzwerks TyNeOdna (Du bist nicht allein), sagt: „Man darf Besessene nicht zu Leinwandstars machen, man darf ihnen nicht das Wort und den Zugang zu Medienplattformen geben – das führt zu einer Vermenschlichung des Verbrechers und seiner Rechtfertigung. [Man sollte] nur aus dem Blickwinkel der Strafermittlung, der Opfer und der Fachleute [berichten].“
Viele waren nicht nur über die Worte des „absolut reuelosen“ Mochow empört, sondern auch über seine Selbstvermarktung: „F*ck! Er kam als Irrer in den Knast und kommt als Medienstar wieder raus. Was zum Teufel ist hier los?“
Ksenia Sobtschak
Ksenia SobtschakDie TV-Moderatorin wurde auch für die Werbeeinblendungen in dem Interview verurteilt. „Auch Ksenia Sobtschak sitzt nicht untätig herum. Sie hat ein gramvolles Gesicht. Sie hat das richtige Styling. Sie stellt Fragen der Art: Sagen Sie mir, hat die Tatsache, dass eines der Opfer in der Gefangenschaft zweimal entbunden hat und ihr beide Kinder von dem Wahnsinnigen weggenommen wurden, das Opfer irgendwie beeinflusst? Ksenia zeigt auch Werbespots. Darauf hätte man in diesem Interview verzichten können (wie auch auf das Interview selbst), aber sie sind nun einmal da. Geworben wird für einen PCR-Test: Schnell, bequem und man wird nicht eingesperrt (in die Quarantäne)“, schrieb die Filmkritikerin Sinaída Prónchenko.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Films gab es Forderungen nach einem gesetzlichen Verbot des Besuchs von TV-Shows für Personen, die schwere Personendelikte begangen haben. Die Strafverfolgungsbehörde wird prüfen, ob Mochows Worte über die „Hilfe bei der Zeugung“ als Drohung ausgelegt werden können.
Die Moderatorin ist jedoch nicht der Meinung, dass sie die Grenze überschritten habe. Schon vor der Veröffentlichung des Interviews schrieb sie auf Instagram: „Es ist unser Recht als Journalisten, die Grenzen von Gut und Böse auszuloten. Man kann die Natur des Bösen nicht verstehen, wenn man sein Territorium nicht betritt.“
Auch viele Menschenrechtler sind der Meinung, dass ein Verbot der Teilnahme an TV-Shows und öffentlicher Debatten der falsche Weg sei. „Auch wenn sich bezüglich Mochow alle einig sind – es geht hier um die Redefreiheit, und das ist nicht so einfach. Alles hängt davon ab, wie die Worte des ,Vergewaltigers von Skopin’ letztendlich präsentiert werden“, sagt Galina Arápowa, Direktorin des Zentrums für die Verteidigung der Rechte der Medien. Sie glaubt, dass es gut für die Gesellschaft sei, durch journalistische Arbeit (aber nicht im Talkshow-Format) zu zeigen, wie gefährlich solche Menschen sind.
Statt eines Verbots sollte der Staat ein Schutzsystem für Gewaltopfer entwickeln, forderte Anna Riwina, Leiterin des Zentrums Violence.net und promovierte Juristin. Im Moment gebe es keinen Schutzmechanismus für Opfer wie z.B. eine Annäherungsverbot oder eine Anordnung, nicht mit dem Opfer über soziale Medien zu kommunizieren. Es gibt eine Auflage durch den Strafvollzug und die Polizei, die Mochow unter Strafandrohung dazu verpflichtet, in dem Gebiet zu bleiben, in dem er gemeldet ist. Wenn das Opfer aber in demselben Gebiet wohnt, bleibt diesem nur die Möglichkeit, seinen Wohnort zu wechseln. Mochow fügte unmittelbar nach der Veröffentlichung des Films seine ehemalige Gefangene Katja zu den „Freunden“ in seinem Account bei den sozialen Netzwerken hinzu. Nach eigenen Angaben habe er ihr noch aus der Strafkolonie heraus unter einem anderen Namen geschrieben.
Aber ein solches Problem würde prinzipiell nicht existieren, wenn das russische Justizsystem anders strukturiert wäre, glaubt Riwina: „In der amerikanischen Praxis kann eine Person zu 200 Mal lebenslänglich verurteilt werden und man denkt: Was für ein Unsinn – einmal würde schon reichen. Aber Katjas Fall zeigt: Es gab zwar mehr als 900 Vergewaltigungen [während der Gefangenschaft], aber die wurden [faktisch] als eine einzige qualifiziert. Wenn es einen kumulativen Effekt gegeben hätte, hätten wir diese Person nie wieder auf freiem Fuß gesehen.“
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