Immer mehr Russen werden zu Atheisten – warum?

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WIKTORIA RJABIKOWA
Die Zahl der Atheisten in Russland hat sich innerhalb von vier Jahren verdoppelt – wir sagen Ihnen, welche Russen der Orthodoxie den Rücken kehren und ob es möglich ist, den „Schwund“ der Gläubigen zu stoppen.

„Ich habe als Kind ein Kreuz getragen, es fünfmal verloren und irgendwann beschlossen, dass Gott mich entweder aufgibt oder nicht. Als Teenager kam ich zu dem Schluss, dass es nur ein Missverständnis war und man an niemanden glauben muss. Und ich beschloss, nicht länger an Gott zu glauben“, beschreibt der 18-jährige College-Student und künftige Grundschullehrer Daniel Istómin aus Moskau seinen Weg zum Atheismus.

Daniels Eltern haben immer an Gott geglaubt und sind fast jeden Tag in die Kirche gegangen, um zu beten und Kerzen anzuzünden. Aber sein Vater weigerte sich, auf die gegensätzlich Meinung seines Sohnes zu hören. Laut Istómin spreche seine Familie nicht über Gott, „weil Papa sehr wütend ist – er glaubt zu viel.“

„Meine Eltern glauben, dass das Glück von Jesus Christus komme und es ihnen deshalb gut gehe, aber zum Glück nehmen sie mich nicht mehr mit in die Kirche, schließlich bin ich ein erwachsener Junge“, räsoniert Daniel.

Vom Protest zur informierten Entscheidung

Von 2017 bis 2021 hat sich die Zahl der Atheisten in Russland verdoppelt, von 7 % auf 14 %, so eine Studie des Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung (WZIOM).

„Meine Eltern haben mich getauft, als ich drei Jahre alt war. Niemand hat mich gefragt, und in diesem Alter war ich mir nicht wirklich bewusst, was vor sich ging – wie konnte ich mich danach orthodox nennen?“, argumentiert Tatiana Melnikowa, eine Absolventin der 11. Klasse.

Junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren (22 %) halten sich laut WZIOM-Statistiken in erster Linie für Atheisten, Tatiana ist eine von ihnen. Ihre Weltanschauung wurde vor allem durch ihre gläubigen Eltern und den frühen Zugang zu sozialen Netzwerken geprägt – bereits im Alter von zehn Jahren wurde ihr klar, dass sie nicht an Gott glaubte.

„Ich weiß nicht mehr, was genau ich gelesen oder gesehen habe, aber niemand hat mir diese Entscheidung aufgezwungen. Nur mit meinen Eltern gibt es immer noch Streit über den Glauben, und jeder hält an seiner Meinung fest“, klagt Melnikowa.

18 % der befragten Atheisten sind zwischen 25 und 34 Jahre alt.

„Im Alter von 14 Jahren las ich aus Interesse die gesamte Bibel. Es gab zu viele Ungereimtheiten. Ich habe die Antworten auf die Fragen auf den Webseiten der Kirche, des Patriarchats gelesen, aber sie halten der Kritik nicht stand – all ihre Dogmen sind veraltet“, sagt der 32-jährige Rechtsanwalt Artjom Belotigrow über seinen Weg zum Atheismus.

Nach der Schule interessierte sich Artjom für die Wissenschaft und hörte völlig auf, an Gott zu glauben. Er besucht zwar immer noch Kirchen, nimmt sie aber als architektonische Objekte wahr.

Ein anderer Russe, der 34-jährige Arbeiter Boris Serbjanin, interessierte sich seit seiner Schulzeit für den Atheismus und stellte seiner gläubigen Mutter oft Fragen zur Religion.

„Meine Eltern waren mit meiner Einstellung zufrieden, aber als ich anfing, die Dogmen des Christentums in Frage zu stellen, wie z.B. Warum ist bisher noch kein Mensch auferstanden?, Warum lässt Gott Kriege und Hungersnöte zu, während die Unschuldigen leiden?, und ihnen diese Fragen später direkt stellte, begann es sie unangenehm zu überraschen, was mir Anlass gab, an der Existenz des Übernatürlichen zu zweifeln. Aber die Meinung meiner Mutter war für mich maßgebend, bis ich die Schule abgeschlossen hatte“, erklärte Serbjanin.

An der Universität begann Boris, Philosophie, Astronomie, Physik und Chemie zu studieren, und wurde dort fast endgültig davon überzeugt, dass es keinen Gott gibt. 2011 starb seine Mutter und bald darauf auch seine Großmutter – eine Zeit lang nach ihrem Tod besuchte er die Kirche, nahm manchmal an Gottesdiensten teil und begann, christliche Feiertage zu feiern und zu beten, aber er betrachtete dies selbst als eine Trauerreaktion.

„Egal, wie sehr du auch betest, das holt den Menschen nicht zurück. Egal wie viele Kerzen du aufstellst, das rettet niemanden vor dem Krebs. Nachdem ich getrauert hatte, begann ich Bücher über Massenhypnose, Schamanismus und Zigeuner-Verschwörungen zu lesen und erkannte, dass Gott, Teufel, Flüche, Feen, Seelen und Geister nichts weiter als Folklore sind“, resümiert Serbjanin.

Auch ältere Atheisten erklären ihre Weltanschauung mit einer bewussten Entscheidung, aber einige geben zu, dass ihr Glaube an Gott durch das Leben zu Sowjetzeiten beeinflusst wurde, als die Kirche vollständig vom Staat getrennt war und das Land selbst den wissenschaftlichen Atheismus förderte.

„Ich mochte den Atheismus zu Zeiten der UdSSR. In den Neunzigern wurde dann natürlich jeder gläubig. Ich begann, Geschichte und Geographie der Religionen aus wissenschaftlicher Sicht zu studieren. Es wurde mir klar, dass es nur zwei wirklich gegensätzliche Weltanschauungen gibt: die wissenschaftliche und die religiöse. Meine Eltern sind katholisch, sie möchten, dass ich gläubig werde, obwohl sie in den letzten Jahren selbst nicht mehr in die Kirche gegangen sind“, sagt Alexander Owsjannikow, der Fremdsprachen, Geografie und Biologie online unterrichtet.

Eine andere Atheistin, Ljubow Fomina, erklärt ihren fehlenden Glauben an Gott wie folgt: „Ich wurde 1977 geboren, ich bin ein sowjetischer Mensch. Und Punkt.“

Vom Atheismus zu Gott

Innerhalb von vier Jahren, von 2017 bis 2021, sank die Zahl der orthodoxen Russen um 9 %. Dennoch gibt es auch solche, die den Atheismus aufgeben und beginnen, an Gott zu glauben.

„Ich hatte gerade ein Baby bekommen, mein Mann hatte seine Arbeit verloren. Wir wussten nicht, wie wir weiterleben sollten und wie wir unserem Kind alles geben konnten, was es für ein normales Leben braucht. Einmal bestand meine Schwiegermutter darauf, dass ich in eine Kirche in St. Petersburg gehe, um zu den Heiligen zu beten – als ich die Schwelle der Kirche überschritt, war es, als ob ich meine innere Stimme verloren hätte. Ich konnte an nichts mehr denken und mir traten Tränen in die Augen“, erinnert sich die 38-jährige Hausfrau Julia Larjowa.

Nach dieser Reise, so erzählt sie, bekam ihr Mann bald einen guten Job mit einem sehr anständigen Gehalt, dann begann Julia, die Bibel zu studieren und Gottesdienste zu besuchen.

„Wir haben keinen Zweifel, dass es die Hilfe eines Heiligen war. Jetzt erwarten mein Mann und ich neuen Familienzuwachs. Wir sind mit allem zufrieden und danken Gott für alles!“

Sergej Rogoschkin, 35, glaubt seit seiner Kindheit nicht besonders an Gott, wurde aber von dessen Existenz in der Schule überzeugt – während einige seiner Klassenkameraden „den Mädchen hinterherjagten“, beschäftigten sich seine Freunde und er mit Theorien über den Ursprung des Universums, und ihm schien die Version der Weltschöpfung durch Gott am logischsten.

„Jugendlicher Maximalismus und die Ungerechtigkeit der Realität sind der Religiosität eher förderlich“, schlussfolgerte Rogoschkin. „Ich brachte sogar meine Mutter dazu, das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis auswendig zu lernen, aber meinen Vater konnte ich nicht überzeugen – er war ein sowjetischer Atheist mit guter antireligiöser Ausbildung.“

Auch Anschelika Praslowa, 50, aus Welikij Nowgorod, begann nicht sofort an Gott zu glauben: Sie besuchte in den Neunzigern zum ersten Mal in die Kirche, als sie schwanger werden wollte.

„Sieben Jahre später wurde ein Kind geboren, aber ich entschied mich erst nach dem Tod meines Mannes religiös zu werden – nicht aus Trauer, sondern weil ich aus einer unglücklichen Ehe befreit war. Bis heute unterstützt mich der Herr, duldet mich, ermahnt mich, zeigt mir andere Seiten und neue Gefühle. Das ist eine neue, sehr interessante Phase des Erwachsenwerdens“, reflektiert Praslowa.

Ihrer Meinung nach gibt es gar keine Atheisten. „Das sind keine Atheisten, das sind nur alle Dummköpfe“, erklärt sie.

Technologie und Korruption

Die zunehmende Zahl der Atheisten in Russland sei vor allem auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik zurückzuführen, glaubt der Religionswissenschaftler Denis Batartschuk.

„Statistisch gesehen gilt: Je mehr Bildungseinrichtungen es in einem Land oder sogar in einer Stadt gibt, desto geringer ist der Anteil der Kirchenbesucher. Ich denke, der Punkt ist, dass Wissenschaft funktioniert und Religion nur verspricht. Die Wissenschaft gibt einfach konkretere Antworten auf Fragen, und junge Leute mögen das“, sagt Batartschuk dem TV-Sender 360.

Ruschan Taktarow, stellvertretender Vorsitzender der einzigen registrierten atheistischen Gesellschaft in Russland, die sich Atheisten Russlands nennt, sagt, die Russisch-orthodoxe Kirche (ROK) dränge den normalen Bürgern ihre Religion auf, was bei einigen Russen Ablehnung hervorrufe.

„Alles spielt sich vor den Augen der normalen Bürger ab: Es werden zu viele Kirchen gebaut und die ROK versucht, den säkularen Charakter des Staates zu beeinflussen; sie schlägt zum Beispiel ein Verbot von Abtreibungen vor. Und wir sollten nicht vergessen, dass wir im Informationszeitalter leben und die Menschen Zugang zu allen möglichen Informationen haben, daher diese Ergebnisse“, argumentiert Taktarow.

Ein anderer Religionswissenschaftler, Wjatscheslaw Terechow, ist der Meinung, dass die Zunahme der Zahl der Atheisten nicht kritisch und kein Indikator für den Zusammenbruch der Institution Kirche ist.

„Junge Menschen suchen immer nach einer Weltanschauung. Sie neigen dazu, ihr Weltbild häufiger zu wechseln als ältere Menschen. ... Das kann sich später ändern. Vielleicht werden einige der jungen Atheisten in zehn Jahren anders denken“, glaubt Terechow.

Gleichzeitig hat die moderne ROK seiner Meinung nach ein negatives Image und viele Russen wollen nicht mit diesem Image in Verbindung gebracht werden.

„Die Medien zeigen die Kirche oft nur in einem negativen Kontext, auch kann die Kirche selbst unter Druck der Regierung stehen, die die Orthodoxie zum Teil zur Staatsideologie machen will – Russen mit einer oppositionellen Haltung sehen das und wollen mit der Kirche nichts zu tun haben“, ist Terechow sich sicher.

Priester Nikolai Babkin stimmte zu, dass es mehr Atheisten gibt, aber das ist seiner Meinung nach nur eine Mode, die man bekämpfen kann, wenn man mehr über das Leben der Kirche von innen heraus spricht.

„Wir müssen die Menschen darüber aufklären und informieren, was die ROK tut. Es ist schwierig, aber es ist notwendig, das stereotype Denken zu ändern, als ob in der Kirche nur gebetet werde, man sich seltsam kleide, es goldene Kuppeln und unverständlichen Gesang in einer schwer verstehbaren Sprache gebe. Solche Vorstellungen werden durch Filme gebildet, von denen die meisten aus dem Westen kommen“, ist sich der Pfarrer sicher.

Russia Beyond schickte eine Anfrage an die ROK; zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lag noch keine Antwort vor.

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