Nur wenige Menschen in Russland sind gegen das Coronavirus geimpft. Warum ist das so?

Kirill Sykow / Agency Moscow
Seit letztem Dezember läuft in Russland eine Kampagne zur Impfung der Bevölkerung gegen das Coronavirus, aber bisher sind nur 4 % der Bevölkerung geimpft worden.

Das GUM am Roten Platz, das bedeutendste Kaufhaus des Landes, war das erste Impfzentrum des Landes außerhalb medizinischer Einrichtungen. Zwischen den Schaufenstern sind Schilder angebracht: Die Impfstelle befindet sich im dritten Stock in einer ehemaligen Buchhandlung. Über Lautsprecher wird mitgeteilt, dass sich jeder ohne Termin impfen lassen kann. Aber es gibt keine großen Warteschlangen und manchmal ist es hier vollkommen menschenleer.

Nach mehreren Monaten der Impfkampagne zeigt sich dieses Bild auch in anderen gut besuchten Einkaufszentren der Hauptstadt: Halb leere Impfstellen und vorbeigehende Menschen mit Einkaufstüten bekannter Einzelhandelsketten. 

„Impfstoff ist reichlich vorhanden. Es gibt bereits viele Impfstellen und neue werden eröffnet. Auch die Logistik ist gut organisiert. Aber die Nachfrage hält sich in Grenzen – die Menschen lassen sich nicht impfen“, berichtet Valerie Fjodorow, Generaldirektor des Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung. Soziologen untersuchen die Impfsituation monatlich – und die Ergebnisse sind durchweg schlecht: Mehr als die Hälfte der Russen ist gegen eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. 

Außerhalb Moskaus liegen die Dinge etwas anders: Es wird nicht in Einkaufszentren geimpft, sondern nach Voranmeldung, und es gibt gelegentliche Nachschubprobleme beim Impfstoff. Aber Russland ist nach wie vor das Land mit dem günstigsten Impfstoff der Welt. Bisher gibt es bereits drei, deren Massenproduktion aufgenommen wurde: Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac.

Dabei wurden nach den neuesten Erhebungen 11,4 Millionen Menschen (das sind 7,8 % der  Bevölkerung) einmal geimpft, die zweite Impfung haben lediglich erst halb so viele Bürger (4,4 %) erhalten. Das ist weit weniger als in anderen Ländern mit eigener Impfstoffproduktion: In Großbritannien wurden mehr als 50 % einmalig geimpft, in den USA immerhin 40,5 % der erwachsenen Bevölkerung. Dieses geringe Tempo passt überhaupt nicht in die Pläne der Regierung: Gesundheitsminister Michail Muraschko teilte am 22. März mit, dass bis zum 15. Juni etwa 30 Millionen Russen geimpft werden sollen.

Fehlgeschlagene Aufklärungskampagne

Sputnik V ist bisher der wichtigste und am meisten produzierte Impfstoff im Land. Es war der erste registrierte Covid-19-Impfstoff der Welt. Aber fast unmittelbar nach der Registrierung gab es in Russland und darüber hinaus die Wahrnehmung, dass etwas nicht stimmte. Immerhin wurde der Impfstoff „unter bestimmten Bedingungen“, also ohne langwierige Studien, zugelassen.

„Es gibt kein Vertrauen in einen Impfstoff, der innerhalb von nur wenigen Monaten entwickelt wurde. Ich gehöre nicht zu den Covidleugnern – ich hatte einen nahen Verwandten, der daran erkrankte und es war sehr beängstigend. <...> Aber nicht so beängstigend, dass man gleich losrennt und sich irgendwessen Ambitionen injizieren lässt“, heißt es in einem bei Psychologen und deren Klienten beliebten Forum.

„Diese Angst ist völlig normal. Das liegt daran, dass der Impfstoff wirklich auf die Schnelle zusammengeschustert wurde. Zwischen Entwicklung eines Impfstoffs und dessen Einführung liegen normalerweise mindestens 2 - 3 Jahre“, sagt Anna Doschewskayj aus Moskau.

Selbst die spätere Veröffentlichung guter Impfergebnisse durch die Entwickler in The Lancet, einer der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften, konnte den „ersten Eindruck“ nicht ausbügeln. Laut Umfragen des Lewada-Meinungsforschungsinstituts ist die Zahl der Menschen, die sich impfen lassen wollen, seit Monaten rückläufig, und der Hauptgrund dafür ist die Angst vor Nebenwirkungen. Laut denselben Umfragen war die meistgenannte Begründung: „Die Impfstoffe wurden übereilt entwickelt und niemand weiß, welche Folgen sie in fünf Jahren haben werden“.

Abschreckt wurde die Bevölkerung auch durch die Aussagen der Behörden, dass geimpfte Personen zwei Wochen vor und 42 Tage nach der Impfung keinen Alkohol trinken sollten. Später wurden diese Empfehlungen abgemildert zu: „man darf  in Maßen zu trinken“. Weder kostenlose Eiscreme als Anreiz, noch das Versprechen des Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin, die sogenannten Sozialkarten (mit denen Rentner, Schüler und Studenten u.a. den ÖPNV verbilligt nutzen können) wieder freizugeben, noch die Werbung auf Plakatwänden am Straßenrand in den Regionen halfen.

Auch Ilja Jasny, verantwortlich für die wissenschaftliche Expertise bei dem Pharma-Venture-Fonds Inbio Venturesist der Meinung: „Offenbar wurde das Vertrauen untergraben, als der Impfstoff aufgrund der Ergebnisse von Studien an 20 Personen vorzeitig zugelassen wurde.“ (Tatsächlich nahmen 76 Personen an der kombinierten ersten und zweiten Phase teil). Seiner Meinung nach könnte das Vertrauen in den Impfstoff durch transparentere Daten über den Impfstoff gestärkt werden: In Russland gibt es noch keine einheitliche Datenbank für die Liefermengen, vorhandene Lagerbestände und Impfstoffmöglichkeiten für alle drei Impfstoffe. Um dies herauszufinden, muss direkt in den Polikliniken anrufen oder eine Anfrage an das regionale Gesundheitsamt gestellt werden.

„Keine freie Kapazitäten. Ich wurde auf die Warteliste gesetzt. Das Ministerium hat den Antrag lange bearbeitet, hat [Termine] verschoben. Um 17:42 Uhr erfuhren wir, dass wir um 8:40 Uhr zur Impfung erwartet wurden. Eine nette junge Frau fragte zwei Tage später, warum wir nicht zum Impfen erschienen seien“, erinnert sich Jekaterina Demidenko aus Sotschi. „Wie wird man in Sotschi gegen SARS-CoV-2 geimpft? Ich werde es erst gar nicht versuchen“, schreibt Viktoria Aniptschenko, eine andere Bewohnerin der Stadt.

„Ein globales Problem der Logistik“

Sowohl die Regionen selbst als auch Immuntechnologii, der offizielle Organisator der Impfstofflieferungen, berichten über Probleme bei der Versorgung und den Mangel an Impfstoffen. Und als Hauptgrund für die Ausfälle zu Beginn der Massenimpfung wurde die extrem anfällige Kühlkette genannt: „Streng genommen darf der Impfstoff nicht einmal fünf Minuten über -18 °C bleiben [um seine Eigenschaften zu bewahren]“, erklärte Iwan Gluschkow, stellvertretender Generaldirektor von Immuntechnologii, über Sputnik V.

Dieser Umstand verhinderte es, die Dosen schnell zu verteilen und alle Regionen gleichermaßen zu versorgen. „Das Problem besteht darin, dass alle Logistikzentren in Russland und auf der ganzen Welt in einem Temperaturbereich von +2 bis +8 °C arbeiten. Darauf hat man sich in den Siebziger-und Achtzigerjahren geeinigt und es gibt gemeinsame Standards für die Medikamentenlagerung“, erklärt Jekaterina Kurbangalejewa, Mitglied der Öffentlichen Kammer der Russischen Föderation und Leiterin des Forschungszentrums Osóboje mnéjije. „Der Chefarzt einer Region erzählte uns, dass sie diese kleinen Chargen, die sie erhalten hatten, mit dem Rettungswagen verteilen mussten. Wir sind ein riesiges Land. Es braucht Zeit, alles anzuliefern, zu lagern, zu verteilen.“

Doch im Januar 2021 überarbeiteten die Entwickler den Impfstoff und das Gesundheitsministerium erlaubt nun die Lagerung bei Plus-Temperatur. Nichtsdestotrotz treffen von fast überall her, außer aus Moskau, Nachrichten über eine Verknappung ein. Nach Ansicht von Beamten und Experten ist dies auf ungenügende Produktionskapazitäten zurückzuführen. Der Kreml hingegen hat den Mangel an Impfstoffen offenbar nicht bemerkt – laut Dmitri Peskow, dem Pressesprecher des Präsidenten, gibt es „keine Informationen“, dass die Nachfrage nach Impfstoffen das Angebot übersteigt. Gleichzeitig existieren in Russland keine ausländischen Impfstoffe und es ist auch nicht bekannt, wann sie hier zugelassen werden. Die einzige Ausnahme ist Sputnik V. Das Vakzin wird außerhalb Russlands produziert und kann in die Russische Föderation „kommen können“, um das Tempo der Impfung zu beschleunigen.

Verschwörungstheorien und mangelnde Motivation

Insgesamt ist die Einstellung zum Impfen in Russland aufgrund weit verbreiteter Verschwörungstheorien und der Anti-Impf-Bewegung nicht sehr positiv – diese Meinungen werden in offiziellen Massenmedien, in Telegram-Chats, auf YouTube-Kanälen und in Social-Media-Gruppen, die über Hunderttausende von Abonnenten verfügen, wiedergegeben.

Im vergangenen Jahr zündeten Bewohner Nordossetiens gleich zweimal Mobilfunkmasten an (im Glauben, dass es sich um 5G-Türme handelte). In Dagestan, Karatschai-Tscherkessien, Stawropol und Kuban fanden spontane Kundgebungen gegen deren Installation statt. Es ist eine beliebte Verschwörungstheorie, dass die Strahlung von Mobiltelefonen dem Immunsystem schadet und die Menschen dadurch anfälliger für Covid-19-Infektionen werden. Am 17. März schlugen Demonstranten in Jekaterinburg im Ural Zelte in der Nähe eines im Bau befindlichen Mobilfunkmasten auf, obwohl die Anlage ebenfalls nichts mit 5G zu tun hatte. Alle diese Menschen sind gegen die Impfung, und die meisten Russen glauben generell, dass das Coronavirus in einem Labor als Biowaffe entwickelt wurde. 

Dies ist jedoch nicht das einzige Problem. Möglicherweise sind die Russen nicht zum Impfen bereit, weil es einfach keinen Anreiz dazu gibt. Die meisten Einschränkungen in Russland wurden schon vor langer Zeit aufgehoben – es gibt kein Reiseverbot zwischen den Regionen, Massenveranstaltungen sind nicht untersagt, gastronomische Einrichtungen haben wieder geöffnet und es gibt kaum andere Maßnahmen, die die Lebensqualität spürbar beeinträchtigen. All dies geschah vor dem Hintergrund einer sinkenden Inzidenz im Land. Nur eine sprunghafte Zunahme der Zahl der Infektionen und der Krankenhausaufenthalte könne die Russen dazu bewegen, sich impfen zu lassen, glaubt Dmitrij Kulisch, Professor am Zentrum für Innovation und Unternehmertum beim Skolkow-Institut für Wissenschaft und Technologie.

Die dritte Welle, von der überall auf der Welt gesprochen wird, ist in Russland offiziell noch nicht angekommen. Allerdings ist seit Ende März ein Anstieg der Zahl infizierter und hospitalisierter Personen in Moskau zu verzeichnen, ebenso wie ein Anstieg der Sterblichkeit. Eine solche alarmierende Dynamik gibt es in den Regionen noch nicht.


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