Favelas mit Whirlpool oder Sauna? Willkommen in der Olympiastadt Sotschi

Wohngaragen im Stadtzentrum.

Wohngaragen im Stadtzentrum.

Artur Lebedew/Sputnik
Sotschi, die Gastgeberstadt der Olympischen Winterspiele 2014, begrüßt jedes Jahr Millionen von Touristen. Mitten im Zentrum der Stadt existiert eine Favela. Aber im Gegensatz zur brasilianischen Variante wird Sie sehr überraschen, was Sie im Inneren vorfinden.

Der Ferienort Sotschi – das bedeutet Schwarzes Meer, modische Hotels, Restaurants mit Terrassen, Kieselstrand, Berge, Urwald und Wasserfälle. Und... echte Favelas praktisch im Zentrum der Stadt.

Im Gegensatz zu den brasilianischen Elendsvierteln sind die Slums von Sotschi nicht so gefährlich, aber nicht weniger bunt. Für Touristen werden  hier Exkursionen durchgeführt, Vlogs werden über sie gedreht, Polizeirazzien finden statt und seit zwei Jahrzehnten weiß die Stadtverwaltung nicht, was sie mit ihnen anfangen soll.

Garagenblöcke in Sotschi.
„Sie wurden unter Verstoß gegen alle möglichen Regeln und Vorschriften, den gesunden Menschenverstand und die Gesetze der Russischen Föderation gebaut.“

Wie sind sie entstanden? 

Einst waren diese mehrstöckigen Gebäude gewöhnliche Garagen. Die Alpinskaja-Straße ist das Zentrum von Sotschi, hier wurde auf dem Gelände einer Garagenbaugenossenschaft ein Viertel errichtet, in dem heute mehrere hundert Menschen leben. Dies ist die größte Ansammlung von Garagen in Sotschi, die in Wohngebäude umgewandelt wurden.

Der Massenbau dort begann bereits in den 1990er Jahren.

Einige solcher Gebäude ragen mehrere Stockwerke hoch – der absolute Sotschi-Rekord ist eine 10-stöckige „Garage“. Dafür haben sie den Spitznamen „Garagenhochhäuser“ erhalten.

Russisches Phänomen, das nur in Sotschi existiert.

Die Massenbebauung begann in den Neunzigerjahren dank einer Reform des Stadtplanungsgesetzes: Diese erlaubt die Erweiterung von Bauten, aber nur in der Vertikalen. Und die Bewohner der Stadt, in der die Immobilienpreise traditionell hoch sind, nutzten dies aus. Sie begannen, eine gewöhnliche Garage Stockwerk für Stockwerk zu erweitern und das Ganze in eine gewöhnliche Wohnung zu verwandeln – die billigsten, die man im Ferienort Sotschi finden kann.

Und da das Gesetz nicht erlaubt, eine Garage offiziell in eine Wohnung umzuwandeln, hat die gesamte Struktur in der Tat einen umstrittenen und zweideutigen Status. Egal wie viele Etagen es sind und wie das Ganze genutzt wird – laut den Unterlagen handelt es sich immer noch um eine Garage. Und das schafft eine Menge Probleme für die Bewohner der Favelas.

Wie ist es, in einer Favela zu leben?

„Die Leute kommen nicht einfach hierher. Ich würde nie hier leben, wenn ich eine andere Möglichkeit hätte.“

„Anders als in [brasilianischen] Favelas wird Sie hier niemand ausrauben. Es sei denn in der Nacht.“

„Hier gibt es keine richtigen Lebensbedingungen, es gibt normale Kanalisation. Gott bewahre mich davor, hier zu wohnen.“

Garagen können langfristig gemietet werden.

Dies ist nur ein kleiner Teil der Meinungen, die die Bewohner Sotschis über die Favelas äußern. Von außen sieht diese Ansammlung selbstgebauter Häuser am Hang eigentlich recht bescheiden aus. Aber in Wirklichkeit unterscheiden sich die Wohnungen nicht sehr von denen in einem gewöhnlichen Wohnhaus.

Die dortigen Gebäude sind an Strom, Wasserleitungen und Kanalisation angeschlossen.

Die meisten dieser Unterkünfte sind mit Stromanschluss, Wasser- und Abwasserrohren ausgestattet. Bei Gas sieht es nicht ganz so gut aus – hier muss man Propangas in Flaschen nutzen oder auf Elektrokocher zurückgreifen, was leicht zu einem Brand mit tragischen Folgen führen kann.

Die Böden sind wie eine gewöhnliche Wohnung angeordnet.

In den Erdgeschossen steht immer noch ein Auto, aber in den darauf gesetzten Überbauten sieht es aus wie in einer gewöhnlichen Wohnung: Es gibt kaltes und warmes Wasser (aus einem Boiler), Waschmaschine, Dusche, WC, Küche mit einer Abzugshaube und andere Annehmlichkeiten.

Einige ehemalige Garagen gleichen heutzutage fast schon einem Zimmer in einem Luxushotel: „Ich habe in einer Herberge in einer solchen Wohngarage gewohnt – auf drei Etagen. In der ersten Etage befindet sich eine warme Garage, in der zweiten ein Studiozimmer, Küche, Bad mit Pool und Sauna für zwei Personen, in der dritten Etage zwei Zimmer und ein Whirlpool. Es war cool, aber eine Sache hat gestört: man muss eine Außentreppe von Stockwerk zu Stockwerk hinaufsteigen“, schreibt Loki23rus.

Die Außentreppe ist hier eine beliebte Option, um die Etagen miteinander zu verbinden oder jede in eine separate Wohnung zu verwandeln, meist zur Vermietung.  Dafür lässt sich hierher ganz einfach ein Taxi rufen oder eine Pizza bestellen.

„Generell gilt: Wohngaragen sind eine Art Staat im Staat. Hier gibt es eine Reifenwerkstatt, in einer der Garagen befindet sich ein Fitnesscenter. Es gab sogar eine öffentliche Sauna, aber die ist abgebrannt. Eine Menge Familien mit Kindern, fast in jeder zweiten Garage. Was soll ich sagen, es gibt sogar eine Kinderpoliklinik“, erzählt Jewgenia aus Sotschi.

Wie viel kostet es und wer wohnt hier?

In der Regel werden Garagen langfristig, zumindest für die Saison, angemietet. Obwohl es in den Favelas auch viele Angebote für Wochenendunterkünfte für Touristen gibt.

„Übrigens: Alles, was hier vermietet werden kann, wird auch vermietet. Sogar ein Hühnerstall. Solange halt die Nachfrage da ist. Vor allem, wenn es in fußläufiger Entfernung zum Meer liegt“, schreibt Jewgenia.

Die Garage kostet ungefähr 20.300 Dollar.

Dabei sind die Kaufpreise für eine solche Wohnung nicht gerade niedrig und manchmal sogar vergleichbar mit den Kosten für eine normale Wohnung gleicher Größe. So kostet zum Beispiel ein Zimmer (eine Etage) in einer solchen Garage etwa 1,5 Million Rubel (17.000 €). Der Preis einer zwei- bis dreistöckigen Garage liegt im Bereich von 6 - 10 Millionen Rubel (67.000 – 111.000 €).

Es gibt das Phänomen der „Gummiwohnungen“.

Hier leben Zugereiste, Wanderarbeiter, Studenten, Touristen mit kleinem Budget oder die früheren Garagenbesitzer, die es im Laufe der Jahre geschafft haben, sich ein „Penthouse am Meer“ zu bauen.

„Es könnte alles in die Luft fliegen“

Kriminalität ist in den Favelas nicht so häufig, aber weil die Menschen hier ohne polizeiliche Anmeldung leben, ist das Gebiet zu einer „Grauzone“ geworden. Alexander Runow, Leiter der Pressestelle der Polizei von Sotschi, sagt, dass Polizeirazzien in den Favelas Routine seien: „Das Phänomen der ,Gummiwohnung' [eine Wohnung, die von 10 - 20 Personen, meist illegalen Migranten, bewohnt wird] ist ja hinlänglich bekannt. Nicht selten werden Bordelle aufgedeckt. So kommt es, dass Garagen als Unterschlupf für Gastarbeiter aus zentralasiatischen Republiken dienen. Oft rauben solche ,Untermieter' ihre eigenen Vermieter aus, die die Garagen als Unterkunft zur Verfügung stellen.

Die Favelas wecken auch Ängste bei den Anwohnern. „Es sind nicht nur die Favelas, sondern alles wird unter Verletzung aller möglichen Normen und Vorschriften, des gesunden Menschenverstandes und der Gesetze der Russischen Föderation gebaut“, kommentiertDsmiollaCnews. „Dort zu wohnen ist nicht nur riskant, sondern lebensgefährlich, denn es wurde in einer erdbebengefährdeten Region gebaut, es befinden sich haufenweise Gasflaschen dort und niemand hat je eine statische Berechnung durchgeführt.

All dies könnte jederzeit in die Luft fliegen, zusammenbrechen oder abbrennen. Gleichzeitig gibt es kein Wasser für die Feuerwehrleute, keinen freien Zugang zu den Gebäuden und keine Sicherheitsabstände zwischen den Garagen. Ganz zu schweigen davon, dass es unmöglich ist, sich polizeilich anzumelden, Rentenanträge zu stellen, Post zu empfangen und so weiter.

Wie mit den Favelas zu verfahren ist, können die städtischen Behörden schon mehrere Jahrzehnte lang nicht entscheiden: Zum einen ist es Privateigentum und es ist nicht einfach, einzugreifen, zum anderen werden die Räumlichkeiten nicht wie vorgesehen genutzt. Bisher warten die Bewohner der Favelas auf die so genannte Garagenamnestie – wenn sie ihre Garagen in Wohneigentum umwandeln dürfen. Ein solches Gesetz hat bereits die zweite Lesung im Unterhaus des Parlaments passiert.

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