In der letzten Folge von „Das Damengambit“, einer der beliebtesten Netflix-Serie des Jahres 2020, trifft die Schachspielerin Beth Harmon in Moskau zu einem Turnier ein, an dem keine andere Frau teilnimmt. Die Stimme im Off gibt eine mörderische Beschreibung der amerikanischen Schachspielerin: „Das einzig Ungewöhnliche an ihr ist wirklich ihr Geschlecht, aber selbst das ist in Russland nichts Ungewöhnliches“, berichtet der Erzähler und erinnert an eine sowjetisch-georgische Schachspielerin. „Es gibt Nona Gaprindaschwili, aber sie ist Weltmeisterin der Frauen und hat noch nie gegen Männer gekämpft.“
Beth Harmon ist, wie alle ihre Spiele in der ausschließlich männlichen Welt des Schachs in den späten Sechzigerjahren, eine fiktive Figur. Anders als die bereits erwähnte Nona Gaprindaschwili. Diese ist jetzt 80 Jahre alt und lebt in Tiflis. Es war Gaprindaschwili, die als erste Schachspielerin den Titel eines Großmeisters unter den Männern errang. Im Jahr 1968, in dem die Handlung der Episode spielt, in der es heißt, sie „hat noch nie gegen Männer gespielt“ – sie war bis dahin gegen mehr als 50 männliche Schachspieler angetreten.
Als Nona Gaprindaschwili herausfand, dass die Macher der Serie ihre zahlreichen Erfolge einfach unter den Teppich gekehrt hatten, beschloss sie, diese auf 5 Millionen Dollar zu verklagen. In der Klageschrift heißt es, dass Netflix „schamlos und absichtlich gelogen“ habe, was ihre Leistungen angeht, „mit dem schnöden und zynischen Ziel, die Dramatik zu steigern“. Eines ist sicher: Nona Gaprindaschwili hat so viel erreicht, dass man daraus eine eigene Fernsehserie gestalten könnte.
Nona Gaprindaschwili begann im Alter von zwölf Jahren an Turnieren teilzunehmen und trat bereits damals gegen das andere Geschlecht an. Zu ihrem ersten Turnier kam sie jedoch nur durch Zufall. Das Schachspiel brachten ihr ihre Brüder bei, die abwechselnd Meister von Sugdidi, der Hauptstadt der Region Mingrelien in Georgien, waren. Als einer von ihnen wegen einer Erkältung nicht an einem Turnier im dortigen Haus der Pioniere teilnehmen konnte, nahm Nona seinen Platz am Brett ein.
Sie setzte sich schnell gegen ihre ein paar Jahre älteren Gegner durch und erregte die Aufmerksamkeit von Wachtang Karseladse, dem Gründer der georgischen Frauenschachschule, der besten in der UdSSR. Jahre später sollte Gaprindaschwili zehnmal (von 1963 bis 1984) Mitglied der sowjetischen Frauen-Olympiamannschaft sein. Bei zwei dieser Tourniere bestand die Nationalmannschaft ausschließlich aus georgischen Schachspielerinnen.
Ihr Trainer überredete ihre Eltern, die Tochter in Tbilisi studieren zu lassen, und so zog sie mit 14 Jahren in die Hauptstadt Georgiens. Mit 15 erlangte sie ihren ersten richtigen Ruhm. Bei einem Wettbewerb für Erwachsene im Jahr 1956 besiegt das junge Mädchen seine Konkurrentinnen eine nach der anderen und wurde Schachmeisterin von Georgien.
1962 nahm sie an einem internationalen Turnier in Moskau teil und wurde damit die fünfte Weltmeisterin in der Geschichte des Schachs. „Ich war mit dem Zug auf dem Heimweg. Als wir nach Georgien kamen, musste der Zug an jeder Station mindestens zwei Minuten lang anhalten – auch dort, wo gar kein Stopp vorgesehen war. Überall waren Menschen, und ich begrüßte sie auf dem Bahnsteig. Als ich dann in Tiflis eintraf, geschah etwas Unglaubliches: Mein Vater verlor in dem Gedränge seine Schuhe, als er mich begrüßte“, erinnert sich Gaprindaschwili.
Nachdem sie den internationalen Großmeistertitel bei den Frauen gewonnen hatte, wollte sie nun auch den Wettbewerb bei den Männern gewinnen.
Gaprindaschwili trainierte jeden Tag stundenlang und arbeite zielstrebig an Strategie und Taktik. Das ließ sie zu einer vielseitigen Schachspielerin werden – sie ist gleichermaßen stark in der Taktik wie im manövrierenden Positionsspiel. „Es ist immer gut, sich mit starken Gegnern zu messen, deshalb habe ich angefangen, gegen Männer zu spielen“, sagt sie. „Zuerst wollten sie alle bis zum Ende gegen mich spielen, ein Unentschieden wollten sie nicht zulassen. Die Spiele wurden nach den damaligen Regeln unterbrochen und wir mussten die Partie am nächsten Tag beenden.“
Aber es ging nicht nur um sportliche Begeisterung: „Selbst ein Unentschieden gegen eine Frau verletzte das Ego der [männlichen] Gegner, so dass sie bis zum Schluss gegen mich kämpften“, mein sie. Maria Fomkina, Wettkampfrichterin der ersten Kategorie und FIDE-Meisterin, bestätigt dies: „Es gab zum Beispiel Klubs, die nach Gaprindaschwili benannt wurden. Dorthin schickte man die männlichen Spieler, die gegen eine Frau verloren hatten. Deshalb setzten Männer alles daran, um nicht einem solchen Klub anzugehören und gaben ihr Bestes, um nicht gegen eine Frau zu verlieren – lieber neun Partien gegen Männer verlieren, als eine einzige Partie gegen eine Frau!“
Gaprindaschwili spielte jedoch immer alle Partien zu Ende, auch wenn ihr der erste Platz im Turnier bereits sicher war. Es war eine Frage des Prinzips. Als sie ihre erste Weltmeisterschaft gewann, wurde sie sofort zu einem internationalen Schachturnier in Hastings eingeladen. Danach gab es keinen Mangel an Einladungen zu Turnieren. Sie erreichte ihr Ziel 1977 bei den US-Meisterschaften in Lone Pine (Kalifornien): Danach wurde Nona Gaprindaschwili die erste Frau, die den Titel eines internationalen Großmeisters für Männer errang.
Es gibt ein berühmtes Foto aus dem Jahre 1965 von Nona Gaprindaschwili, die mit 28 Schachspielern, allesamt Männer, in einem Simultanwettbewerb in Dorset spielt.
Aber es gab noch eine weitere herausragende Episode: In Georgien spielte sie einmal gleichzeitig gegen 38 Gegner (bis zu 20 Bretter gelten bei einem Simultanwettbewerb als normal). „Ich sehe 38 junge Leute dort sitzen und sage: ,Was soll das?! 38! Können Sie sich vorstellen, wie viele Kilometer man dabei zu Fuß zurücklegen muss?ʻ Aber was sollte ich tun? Ich konnte ja nicht sagen: ,Stehen Sie auf, ich will nicht mit Ihnen spielen!ʻ. Aber es war nicht schwer für mich – ich fing schnell an, sie zu schlagen und die Zahl der Bretter nahm schnell ab.“
Solche Ereignisse ließen Gaprindaschwili zu einem Schach-Superstar werden. In ihrem Heimatland Georgien gab es in den Sechzigerjahren einen regelrechten Boom beim Frauenschach. Die Mädchen stürmten die Schach-AGs in den Schulen, und das hatte eine phänomenale Wirkung: Über dreißig Jahre lang dominierten georgische Mädchen die internationale Schachszene. Nona Gaprindaschwili selbst hielt die Schachkrone 16 Jahre lang und war die erste Frau, die den Schach-Oscar gewann.
Doch selbst solche Siege erlaubten es ihr nicht, ein bequemes Leben zu führen. Für den Gewinn der letzten Weltmeisterschaft 1984 bekam Gaprindaschwili 900 Rubel (657 Dollar zum damaligen Wechselkurs): „Wir erhielten ein Gehalt, das kaum für einen Monat reichte. Selbst wenn wir für unsere Siege im Ausland etwas bekamen, mussten wir die Hälfte davon [an den Staat] abgeben. Das Geld reichte damals nicht einmal, um die Wohnungsmiete zu zahlen, bis der Staat mir die Wohnung überließ.“ Auch Reisen ins Ausland waren streng geregelt. Sie, die amtierende Weltmeisterin, durfte nicht mehr als zweimal im Jahr ins Ausland reisen, obwohl sie regelmäßig persönliche Einladungen erhielt.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR begann sie, für Georgien zu spielen, und tut dies bis zum heutigen Tag. Ihr zu Ehren wurde der Schachpalast von Tbilisi errichtet. „Das Schachleben ist für mich nicht vorbei. Ich nehme gerne Einladungen zu verschiedenen Turnieren an, aber meistens zu solchen für Veteranen – in meinem Alter sollte ich nicht mit den Jungen konkurrieren, man kann die Natur nicht betrügen“, bekennt sie.
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