Gibt es Rassismus in Russland?

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Es kommt vor , dass man in Russland wegen der Hautfarbe oder der Augenform keinen Job bekommt, keine Wohnung mieten kann oder in der Schule und den sozialen Medien gemobbt wird. Und das Gesetz gegen Hassreden schützt davor überhaupt nicht.

Stella, ein 28-jähriges Fotomodell, ging nach dem Besuch in einem Moskauer Elite-Fitnesscenter duschen. Kaum hatte sie den Wasserhahn aufgedreht, hörte sie hinter sich den hysterischen Schrei einer älteren Frau: „Was macht denn die Schwarze hier?“ Die junge Frau dachte zunächst, sie sei nicht gemeint gewesen oder habe sich verhört. Eine andere Frau begann jedoch für sie einzutreten und fragte die pikierte Dame, wie sie es wagen könne, so über Fremde zu sprechen.

„Nun, ich habe das nicht auf mir sitzen lassen, sondern bin zu der Frau gegangen und habe sie gefragt, ob sie das zu mir gesagt hat. Daraufhin hörte ich, dass ich schwarz sei und nicht hierher gehöre, dass ich eine Prostituierte sei und vieles andere mehr. Die Frau ist übrigens 70 Jahre alt, und eine Dauerkarte für das Fitnessstudio kostet mehr als 60.000 Rubel (700 Euro) pro Jahr . Ich hätte nicht gedacht, dass jemand, der sich ein solches Abonnement leisten kann, so denken könnte, und ich war schockiert von dem, was mir gesagt wurde“, erinnert sich das Model.  

Stella wurde in Ruanda geboren. Als sie elf Monate alt war, zogen ihre Eltern mit ihr nach Moskau. Stella ist seit ihrer Kindheit aufgrund ihrer Herkunft mit Spott und Hass konfrontiert und ist damit nicht die Einzige – nicht nur Dunkelhäutige, sondern auch Migranten aus den früheren zentralasiatischen Republiken der UdSSR und Angehörige anderer Nationalitäten mit russischer Staatsbürgerschaft (es gibt mehr als 160 solcher Nationalitäten in Russland) werden diskriminiert. Auch ethnische Russen selbst sind in Russland wegen ihrer Haltung gegenüber Vertretern anderer Nationalitäten Schikanen ausgesetzt.  

Gleich große Verachtung

Demonstranten rufen Parolen während eines von mehreren ultranationalistischen Organisationen organisierten Marsches anlässlich des neuen Feiertags zum Tag der Volkseinheit am 4.

Im Jahr 2019 betrug die Zahl der Migranten in Russland mehr als zwölf Millionen, was 8 % der Gesamtbevölkerung des Landes entspricht. Vor der Pandemie stammten die meisten Migranten aus der Ukraine (299.000), Kasachstan (etwa 50.000), Tadschikistan (44.000), Armenien (24.000) und Usbekistan (19.000). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums zur Fremdenfeindlichkeit im Land ist der Grad der Intoleranz gegenüber Migranten von 2017 bis 2019 von 54 Prozent auf 71 Prozent gestiegen. Gefragt wurde, ob eine oder mehrere ethnische Gruppen genannt werden können, deren Aufenthalt in Russland eingeschränkt werden sollte.

Fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen gegenüber anderen Kulturen und Rassen ändern sich je nach den Ereignissen in der Welt, erklärt Karina Pipija, Soziologin bei der gemeinnützigen Stiftung Nuschná pómostsch (Hilfe benötigt). „Im Jahr 2014, nach der Angliederung der Krim durch Russland [und dem darauf folgenden Anstieg der antirussischen Stimmung in der Ukraine], verschlechterte sich die traditionell positive Einstellung der russischen Einwohner gegenüber den Ukrainern. Das heißt nicht, dass die Russen begannen, die Ukrainer wesentlich schlechter zu behandeln, aber die negative Einstellung nahm zu“, nennt Pipija ein Beispiel.

Ein Polizist überprüft Dokumente von Wanderarbeitnehmern aus Zentralasien während einer Einreise zum Roten Platz in Moskau, Russland.

Die mangelnde Bereitschaft Russlands, das Leben und die Kultur anderer ethnischer Gruppen zu verstehen, hat auch zu Mythen über Migranten geführt. So werden beispielsweise Migranten aus Zentralasien in Russland als Kriminelle wahrgenommen; eine ähnliche Einstellung gebe es auch gegenüber den Roma, so Pipija.  „Die Statistiken des Innenministeriums widerlegen diese Gerüchte. Eine [2017 von Pipija selbst durchgeführte] Studie zeigt, dass fast jeder zweite Russe im Alltag nicht mit Migranten in Berührung kommt, während mehr als zwei Drittel ihnen gegenüber eine negative Einstellung haben, bis hin zu dem Wunsch, die Einreise nach Russland zu beschränken“, sagt die Soziologin.

Nach Angaben der russischen Generalstaatsanwaltschaft ist die Zahl der von Ausländern und Staatenlosen begangenen Straftaten seit 2015 stetig zurückgegangen. Im Jahr 2020 waren es 34.400 von mehr als 2 Millionen registrierten Delikten. Das Innenministerium stellte fest, dass nur 3,5 % aller Straftaten von Ausländern begangen werden. In Regionen mit einem hohen Anteil an Migranten ist der Anteil der von ihnen begangenen Straftaten jedoch viel höher – in Moskau, der Region Moskau und St. Petersburg lag er in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 bei 20 % aller Straftaten. 

Gleichzeitig gibt es in Russland keinen ausgeprägten Rassismus gegenüber farbigen Menschen. Selbst das Wort „Neger“ ist in dem Land keine Beleidigung, aber farbige Menschen werden nicht besser behandelt als Wanderarbeiter, so Pipija weiter. Nicht alle Russen, so sagt sie, stünden interethnische Ehen positiv gegenüber. Sie seinen nicht bereit, Afrikaner als Nachbarn auf der Treppe zu sehen. Aber es gebe weniger von ihnen als von Wanderarbeitern, so dass der Hass auf dunkelhäutige Migranten nicht so ausgeprägt ist, so die Soziologin. 

„Die geringe Zahl der Farbigen in Russland, die sich auf die großen Städte konzentriert, und ihre geringe Präsenz im öffentlichen Raum führen nicht zu einer negativen Einstellung der Bevölkerung: Es lässt sich nicht sagen, dass sie Arbeitsplätze wegnehmen oder alle Nischen des Marktes besetzen. Zentralasiaten hingegen sind sichtbar und spürbar, und fremdenfeindliche Haltungen erstrecken sich aktiv auf sie“, erklärt Pipija.  

Hass von der Wiege an

Die aus Ruanda stammende Stella wurde mit Rassismus erstmals im Kindergarten konfrontiert. „Ein Junge machte sich über mich lustig und ich beschwerte mich bei meiner Mutter. Die sagte mir, ich solle das nächste Mal zurückschlagen, was ich dann auch tat. Anfangs bat ich meine Eltern um Hilfe, aber sie erklärten mir nur, dass die Jungs, die mir weh taten, Idioten seien – das half mir nicht. Später in der Schule habe ich nichts gesagt, ich habe mich nicht beschwert, ich habe alles für mich behalten“, sagt das Model.

Mit Beleidigungen wird Stella wird jeden Monat im echten Leben oder in den sozialen Netzwerken konfrontiert. Im Mai 2021 begannen Unbekannte in den sozialen Netzwerken, ihr Fotos mit der Bildunterschrift „Nigger geh zurück nach Afrika – mach den Slawen keine Schande“ zu schicken.

„Das ist sehr unangenehm, stammt aber von dummen Menschen, die selbst im Leben nichts erreicht haben und andere für ihr eigenes Versagen verantwortlich machen. Man sollte bereits den Kindern erklären, dass es verschiedene Nationalitäten gibt und dass sie alle friedlich zusammen leben können“, so Stella. 

Der 15-jährige Uigure Muchammaddijor zog als Achtjähriger mit seinen Eltern von Kirgisistan nach Russland. Seit der ersten Klasse wurde er „Neger“ und „Affe“ genannt. „Als ich meinem Vater einmal davon erzählte, sagte der: ,Na dann wehre dich doch – du bist schließlich ein Junge!ʻ. Ich hatte überhaupt keine Lust, jemanden zu schlagen, und nach diesem Ratschlag habe ich nie wieder von solchen Vorfällen erzählt“, sagt er.

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Im Februar 2021 posteten mehrere seiner Klassenkameraden ein Foto des Jungen im sozialen Netzwerk VKontakte und behaupteten, er sei homosexuell, und riefen dazu auf, ihn zu finden und zu verprügeln. „Ich kann gar nicht in Worte fassen, was ich dabei empfunden habe. Natürlich gab es Leute, die auf meiner Seite waren, aber es gab auch welche, die mir sagten ,Tadschiken müssen sterbenʻ oder ,Schwarze sind keine Menschenʻ und mich verprügeln wollten. Die Geschichte endete damit, dass meine Klassenkameraden polizeilich erfasst wurden und einer von ihnen von der Schule verwiesen wurde“, erinnert sich Muchammaddijor. 

Er sagte, er habe sich lange Zeit für seine Hautfarbe geschämt und davon geträumt, heller zu werden. Mit 15 Jahren entdeckte der Schüler TikTok für sich und erzählte dort von seinen Problemen – das habe ihm geholfen, seine Komplexe zu bewältigen. „Viele Leute schrieben mir, wie gut ich aussehe, und danach fing ich an, mich selbst zu mögen. Meine Meinung über mich begann sich allmählich zu ändern. Jetzt bin ich in den Sommerferien in meiner Heimat [Kirgisistan] und will mich erholen – die 9. Klasse und die Prüfungen stehen an und ich muss mich auf die Schule konzentrieren“, teilt der Schüler seine Pläne mit.

„Man kann einen normalen Mann lieben, aber keinen Schwarzen.“

Darja Gaschimowa, eine 18-jährige Journalistikstudentin der Staatlichen Universität Astrachan, wird von Kommilitonen als „Tschurka“ (was mit dem Schimpfwort „Kanake“ in Deutschland ist), „Chatschicha“, „Negerfresse“ oder „Zugereiste“ bezeichnet. Sie ist Aserbaidschanerin, wurde aber in Astrachan geboren und hat ihr ganzes Leben dort verbracht; seit ihrer Geburt besitzt sie die russische Staatsbürgerschaft. „Unter meinen Gleichaltrigen war es völlig normal, Witze über meine Herkunft zu machen. Wenn ich einen Fehler beging, z. B. aus Versehen etwas nicht richtig machte, wurde mir das angehängt und meiner Nationalität zugeschrieben. Für sie war das lustig und witzig, aber mich hat das sehr gekränkt“, erinnert sich Darja. 

Ihre Eltern können den Grund für diesen Hass immer noch nicht verstehen. „Sie haben sich die ganze Zeit gefragt, wie es sein kann, wo ihre Generation doch auch aus der UdSSR kommt, wo mehr als zehn Schwesternrepubliken friedlich miteinander auskamen. Woher kommt dieser Hass und diese Abneigung gegen Nicht-Russen?“, fragt sich Gaschimowa. 

Eine andere Darja, geboren in Gorno-Altaisk und russische Staatsbürgerin, lebt und arbeitet seit 2016 als Produktmanagerin in Berlin. Sie ist seit mehreren Jahren mit Alex aus Brasilien zusammen. 2020 startete sie einen Blog auf Instagram, in dem sie unter anderem Fotos mit ihrem Freund postet. Eine Community in Vkontakte namens Muschskóje gosudárstwo (männlicher Staat), die im Sommer 2020 wegen Aufrufs zu rechter Gewalt gesperrt wurde, beschimpfte die junge Frau als „Prostituierte“, „Schande für das russische Volk“ und „Tintenfass“ – eine Bezeichnung, die Nationalisten in Russland jungen Frauen geben, die mit Männern anderer Nationalitäten ausgehen. „Man kann einen normalen Mann lieben, aber keinen Neger“, „Unsere Großväter tun mir Leid – sie haben für uns gekämpft und wussten nicht, dass ihre Enkelinnen Flittchen sein würden“, sind nur einige der Kommentare über die junge Frau.

Auch Darjas Eltern akzeptierten ihre Entscheidung nicht sofort und sprachen vier Monate lang nicht mit ihrer Tochter, versöhnten sich aber nach einem Jahr wieder mit ihr. „Am Anfang war ich sehr dünnhäutig, ich dachte sogar daran, mit dem Bloggen aufzuhören. Dann begann ich, mit Frauen zu sprechen, die ebenfalls mit einem Farbigen zusammen leben, und mir wurde klar, dass ich nicht die Einzige war. Mein Freund hat mich in diesem Punkt sehr unterstützt. Er berichtete mir von seinen eigenen Erfahrungen mit dem Rassismus, dem er in Deutschland begegnete. So haben wir das alles überwunden“, erzählt Darja.

Mitglieder nationalistischer Communitys wollten sich auf eine Anfrage nicht zu dieser Geschichte äußern.

Abnehmende Tendenz beim Rassismus

Trotz der Tatsache, dass die UdSSR die Idee der Freundschaft zwischen allen Republiken förderte, existierte auch damals ein Alltagsrassismus zwischen den Sowjetrepubliken, der mit dem Zusammenbruch des Landes zunahm, so Daniil Kaschnizkij, Nachwuchswissenschaftler am Zentrum für qualitative sozialpolitische Studien an der Nationalen Forschungsuniversität der Hochschule für Ökonomie.  

In den letzten zehn Jahren habe das Problem des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit in Städten wie Moskau und St. Petersburg abgenommen, sei in den Regionen jedoch nach wie vor präsent, meint der Forscher. „Vor 2010 gab es zum Beispiel Skinhead-Banden in Moskau, die Neuankömmlinge aus Zentralasien verprügelten. Die gibt es jetzt fast nicht mehr. Doch leider ist der Rassismus im Alltag und bei den Rechtsorganen nach wie vor lebendig. So halten Polizeibeamte immer noch Menschen aufgrund deren Hautfarbe an, in der Hoffnung, eine abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung zu finden, und schicken die betreffenden Personen entweder in ihr Heimatland zurück oder lassen sie laufen, verlangen aber dafür ein Bestechungsgeld. Und es gibt Menschen, die eine Wohnung nicht an Migranten vermieten wollen“, erklärt Kaschnizkij. 

Polizist gestikuliert Usbekistan-Bürgern, die vor ihrer Rückführung auf einem Bahnhofsvorplatz angekommen sind. Ab dem 16. März hat Russland vorübergehend die Eisenbahnkommunikation mit Usbekistan eingestellt, um die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie zu verhindern.

Außerdem steige der Grad der Fremdenfeindlichkeit im Land regelmäßig aufgrund innenpolitischer und sozialer Probleme an, sagt die Soziologin Karina Pipija. „Die Russen verspüren wieder zunehmend sozialökonomische Ängste, und Fremdenfeindlichkeit ist eine Möglichkeit, der Unzufriedenheit Luft zu machen und einen Sündenbock zu suchen. So zirkulierten beispielsweise während des Lockdowns im Internet Meldungen wie „Migranten werden anfangen zu rauben und zu töten“. In gewissem Maße sei dies ein natürlicher Prozess in Zeiten von Turbulenzen: Instabilität (jeglicher Art) im öffentlichen Leben erzeuge Angst und Furcht, die immer auf ein Feindbild, wie z. B. den Migranten, projeziert werden“, erklärte Pipija.  

In Russland gibt es einen Artikel im Strafgesetzbuch, der die Aufstachelung zum Hass oder die Erniedrigung einer Person aufgrund ihrer Rasse, Nationalität, Sprache oder religiösen Einstellung unter Strafe stellt und mit einer Geldstrafe von bis zu 500.000 Rubel (5.850 Euro) oder einer Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren geahndet wird. 2018 gab es 426 Verurteilungen nach diesem Paragraphen. Im Jahr 2019 waren es 19. 

Muslimische Männer, meist Wanderarbeiter aus zentralasiatischen Ländern, stehen neben einem Zaun, der mit einem Bild des Kremls geschmückt ist, während sie sich am Dienstag, 5. Juli 2016, auf das Eid al-Fitr-Gebet vor der Moschee-Kathedrale in Moskau vorbereiten.

Kaschnizkij zufolge könne das Ausmaß des Rassismus in Russland verringert werden, doch dazu bedürfe es eines „starken politischen Willens“. „Das ist notwendig, weil wir den demografischen Rückgang teilweise mithilfe von Arbeitsmigranten kompensieren. Aber wir brauchen konkrete Lösungen sowohl von Seiten der Legislative als auch der Exekutive (Innenministerium, Nationalgarde usw.)“, sagt Kaschnizkij. 

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