Omid, ein dreißigjähriger Absolvent der Anglistik an der Staatlichen Universität Herat in Afghanistan war noch vor einem Jahr Redakteur bei einem lokalen Fernsehsender. Nun steht er schon den dritten Monat um vier Uhr morgens auf – in einer Stunde öffnet sein neuer Arbeitsplatz, der Moskwa-Markt im Stadtteil Ljublino im Südosten Moskaus.
Jeden Tag, sieben Tage die Woche, von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends, bringt Omid chinesische Taschen und Brieftaschen aus einem Lagerhaus und verkauft sie. Dafür bekommt er 30.000 Rubel (ca. 360 Euro). Das Geld reicht aus, um Lebensmittel und ein Bett in einem Schlafsaal mit acht Zimmern in der Nähe des Marktes zu bezahlen (8.000 Rubel, umgerechnet ca. 95 Euro) und seine Frau zu unterstützen, die noch in Afghanistan lebt. Er sagt, das Leben in Russland deprimiere ihn und der Besitzer des Marktstandes verlange von ihm, jeden Tag mehr zu arbeiten.
Auch wenn Omid Grund zum Klagen hat, kann er sich doch glücklich schätzen, Arbeit und Unterkunft gefunden zu haben. Vielen illegalen Einwanderern geht es nicht so gut und sie sind zu einem viel härteren Leben verurteilt.
„Ich möchte, dass mir jemand hilft, mich hier anzumelden und die Erlaubnis zu erhalten, mit meiner Familie nach Russland zu ziehen. Afghanistan hat mein ganzes Leben ruiniert und mir viel Kummer bereitet. Ich fange in Moskau von vorne an, aber es ist sehr schwer und ich bin müde“, klagt Omid.
Am 13. April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan bis Ende August 2021 an. Der US-Militäreinsatz in Afghanistan hatte unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begonnen. Nun hatte die radikale islamistische Bewegung Taliban (die auf dem Gebiet der Russischen Föderation den Status einer terroristischen Organisation hat) Afghanistan innerhalb von vier Monaten vollständig besetzt, wie ihre Vertreter am 15. August 2021 mitteilten.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, erklärte, Russland sei bereit, afghanische Flüchtende zu evakuieren, allerdings nur in Drittstaaten. „Wir sind bereit, die Dienste der russischen Zivilluftfahrt zur Verfügung zu stellen, um den Flug einer beliebigen Anzahl von afghanischen Staatsbürgern, einschließlich Frauen und Kindern, in alle Länder zu gewährleisten, die an deren Aufnahme interessiert sind“, erklärte Sacharowa bei einer Pressekonferenz mit Journalisten am 19. August.
Der russische Präsident hat sich gegen die Aufnahme von Flüchtenden aus Afghanistan in Russland sowie in zentralasiatische Länder ausgesprochen, solange sie kein Visa für die USA und Europa erhalten haben – seiner Meinung nach laufe dies der Sicherheit des Landes zuwider, da Kämpfer als Flüchtende getarnt ins Land kommen könnten.
„Es könnten Tausende von ihnen [Flüchtenden] sein oder sogar Hunderttausende. Oder vielleicht sogar Millionen. Und wir haben nicht einmal Visabeschränkungen mit unseren engsten Verbündeten und Nachbarn. Und was ist das für eine Grenze? Tausend Kilometer lang! Man muss nur in ein Auto einsteigen oder sich auf einen Esel setzen und die Steppe durchqueren“, sagte der Präsident bei einem Treffen mit Vertretern der Partei Einiges Russland am 22. August.
Russland erkennt in der Regel jedoch nur sehr selten den Status Flüchtender an. Ende 2020 befanden sich lediglich noch 455 Flüchtende in Russland; nur 28 Personen erhielten 2020 einen Aufenthaltsstatus, berichtete die Zeitung Parlamentskaja Gaseta unter Berufung auf einen Bericht der Föderalen Agentur für Nationalitätenfragen (FNA).
Bis zum 25. August hatte Russland mit fünf Flugzeugen des Verteidigungsministeriums Bürger des eigenen Landes sowie von Belarus, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und der Ukraine, insgesamt etwa 500 Personen, ausgeflogen. Dennoch gelang es einigen Afghanen, nach Russland zu gelangen. Außerdem gibt es afghanische Studenten an russischen Universitäten, die Angst vor der Rückkehr in ihre Heimat haben und davon träumen, ihre Angehörigen aus dem von den Taliban besetzten Land zu retten.
Wie viele Flüchtende aus Afghanistan gibt es, wie überleben sie in Russland und wer hilft ihnen, sich in einem Land niederzulassen, das sich nicht offiziell zur Aufnahme von Asylanten bekannt hat?
FAN-ID-Eintrag, Gefängnis und Geldstrafen
Am 15. August 2021, dem offiziellen Tag der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan, betraten mehr als zehn besorgte afghanische Studenten der Rostower Schule für Such- und Rettungshunde des russischen Innenministeriums in Jegorjewsk, 97 km von Moskau entfernt, die engen Gänge eines unscheinbaren Plattenbaus in Moskau. Das Haus beherbergt die NGO Graschdánskoje sodéjstwije (Bürgerunterstützung), eine der wenigen gemeinnützigen Hilfsorganisationen Russlands für Migranten und Flüchtende. Russland hat diese Organisation im Jahr 2015 als ausländischen Agenten anerkannt. Das Zentrum bietet rechtliche, medizinische und humanitäre Hilfe sowie Sozialisierungsmaßnahmen und Online-Kurse zum Erlernen der russischen Sprache.
Die Studenten flehten die Mitarbeiter an, ihnen bei der Übersiedlung ihrer Familien nach Russland zu helfen, und fragten, ob sie zurück nach Afghanistan geschickt werden würden.
„Viele von ihnen müssen ihr Studium bezahlen und haben dabei keine Zeit zum Jobben. Die Studiengebühren werden von ihren Eltern aus Afghanistan bezahlt und viele von denen haben inzwischen ihren Arbeitsplatz und ihre Wohnung verloren. Wir beruhigen die Studenten und beraten sie. Aber wir wissen nicht, ob unser Staat afghanische Studenten kostenlos unterrichten wird“, sagte Laila Rogosina, Leiterin des Büros für Öffentlichkeitsarbeit der NGO.
Im Juni 2021 konnten nicht nur Studenten, sondern auch Afghanen mit einer FAN-ID zu den Spielen der Fußball-EM nach Russland einreisen; zu diesem Zeitpunkt erlaubte Russland Ausländern mit FAN-IDs die Einreise. Nach den Einreisebestimmungen sollten Ausländer nach den Spielen bis zum 12. Juli 2021 in ihre Heimat zurückkehren, aber die Afghanen nutzten die FAN-ID als Gelegenheit, ihr Land zu verlassen, als sie von der Machtübernahme der Taliban erfuhren.
„Kürzlich kam ein ehemaliger Geschäftsmann, der Besitzer einer Klimaanlagenfabrik in Afghanistan, mit seiner Mutter und seiner Schwester zu uns. Während er bei den Spielen der Euro 2020 jubelte, wurde zu Hause sein Geschäft von den Taliban übernommen und geplündert. Er hatte dort einen guten Ruf und verlor sofort sein gesamtes Vermögen. Er sagte: ,Wenn ich zurückkehre, werden sie mich töten. Ich habe hier eine Wohnung gemietet, ich kann nirgendwo arbeiten. Wenn es dort morgen ruhig und friedlich wäre, würde ich zurückkehrenʻ“, erzählte Fahim Feroze, der Koordinator und Übersetzer der Bürgerhilfe, die Geschichte eines Betroffenen.
Jeden Tag kommen zehn bis zwanzig Afghanen zur Bürgerhilfe, um eine befristete Aufenthaltsgenehmigung oder vorübergehendes politisches Asyl zu beantragen, während sie bei anderen Afghanen eine Unterkunft mieten und auf Märkten arbeiten, weil sie nirgendwo anders einen Job finden. Wenn Afghanen beim Migrationsdienst Dokumente beantragen, werden sie festgenommen – sie werden nicht ausgewiesen, aber sie müssen 5.000 Rubel (ca. 60 Euro) Strafe zahlen, weil ihr Visum abgelaufen ist.
„Kürzlich wurden drei Afghanen festgenommen und über Nacht in einem Haftraum ohne Essen und Wasser festgehalten. Unsere Anwälte schrieben Beschwerden und vertraten sie vor Gericht. Das Ergebnis war eine Geldstrafe ohne Ausweisung aus dem Land“, erzählt Laila Rogosina.
Im Juni und Juli 2021 seien mehrere Afghanen über Usbekistan und Tadschikistan nach Russland eingereist, aber einige von ihnen seien an der Grenze oder in Russland festgenommen und inhaftiert worden, so Rogosina.
„Wir haben eine große Familie in Saratow, der es gelungen ist, die Grenze über Tadschikistan illegal zu überqueren, und die in Russland um politisches Asyl gebeten hat. Die Männer wurden inhaftiert und saßen zwei Monate in einem Saratower Gefängnis. Während dieser Zeit halfen wir den Frauen und Kindern mit Geld, und schließlich schickte der Migrationsdienst sie in ein Flüchtlingslager in Krasnoarmejsk“, erzählt Rogosina.
Ihr zufolge behandelt Graschdanskoje sodejstwije jeden Antrag auf finanzielle Unterstützung gesondert, da die NGO von Spenden und Unterstützung durch Botschaften von EU-Staaten lebt. Meistens überweisen sie Geld an schwerkranke oder kinderreiche Familien.
„Ich glaube, wenn afghanische Flüchtende bereits in Russland sind und nicht zurückkehren können, weil sie dort in Gefahr sind, dann sollte der Staat sie aufnehmen und ihnen keine Steine in den Weg legen“, schließt Rogosina.
Leben in Russland und Bangen um Afghanistan
Omid aus Afghanistan, der zu Beginn des Textes erwähnt wurde, scheint wie andere Flüchtende bewusst mit der FAN-ID nach Russland eingereist zu sein, in der Hoffnung, hier bleiben zu können. Seine Familie ließ er in seiner Heimatstadt Herat zurück, wo seine Frau an der einzigen Hochschule der Stadt studierte.
„Als die Taliban in die Stadt eindrangen, dachte ich, dass sie die Frauen töten würden und verbot ihr den Besuch der Hochschule. Ich habe mich an die Bürgerhilfe gewandt, die mir erklärte, dass ich eine befristete Aufenthaltsgenehmigung benötige, aber ich habe Angst, zum Migrationsamt zu gehen, da ich keine Ausweispapiere habe und inhaftiert werden könnte. Ich habe Angst, aber ich träume davon, wieder mit meiner Familie vereint zu sein“, sagt Omid.
Ein anderer afghanischer Staatsangehöriger, der 25-jährige Baschir aus Kabul, studiert im vierten Jahr an der Russischen Universität für Verkehrswesen und wohnt in einem Studentenwohnheim. Seine Verwandten wohnen in Kabul, er selbst jobbt als Übersetzer für Persisch.
„Es gibt dort keine Arbeit, nichts, alle Büros sind geschlossen. Die Mädchen können nicht zur Schule gehen und die Banken sind geschlossen. Ich möchte der Familie helfen, aber ich weiß nicht, wie. Und ich weiß nicht, wann das alles vorbei sein wird“, erzählt Baschir.
Ein Teil der Absolventen russischer Hochschulen war gezwungen, nach Afghanistan zurückzukehren, aber sie suchen immer noch nach einer Möglichkeit, nach Russland zu kommen. Wenn ein ausländischer Student sein Vollzeitstudium mit Auszeichnung (einem sogenannten Roten Diplom) abgeschlossen hat, kann er jedoch eine befristete Aufenthaltserlaubnis beantragen.
Elham besuchte 2016 die Hochschule für die Streitkräfte des Fernen Ostens in Blagowestschensk, einer Stadt an der Grenze zu China. Er erhielt ein Blaues Diplom (das alle Absolventen mit einem Abschluss ohne „summa cum laude“ erhalten – Anm. d. Red.), wodurch er keine Chance auf eine Aufenthaltsgenehmigung in Russland hatte und gezwungen war, nach seinem Studium nach Kabul zurückzukehren. Es sei schwierig für ihn gewesen, Russisch zu lernen, beklagt er sich. Das Stipendium in Höhe von 11.000 Rubel (ca. 130 Euro) habe kaum gereicht und er habe „oft auf dem Schießplatz gefroren“. Trotzdem möchte er aber nach Russland zurück, weil das Leben in Afghanistan jetzt viel härter sei.
„Unsere Preise für Mehl, Öl und Reis sind um ein Vielfaches gestiegen. Mein Freund wurde von den Taliban zusammengeschlagen. Die neue Regierung hat überhaupt keine Pläne für die Zukunft des Landes. Sie sagen: ,Habt Geduld, Allah wird euch helfen.ʻ Ich möchte ein Visum für Russland, ich habe sechs Jahre lang studiert und bin bereit, meinen Dienst fortzusetzen, aber ich weiß nicht, wie ich zurückkehren kann“, sagt Elham.
Russland ist kein Land für Flüchtende
Der Dolmetscher Fahim Feroze schätzt, dass insgesamt 100.000 Afghanen in Russland leben. Insgesamt 256 Afghanen haben einen Status als Flüchtende, der ihnen bereits in den Neunzigerjahren zuerkannt wurde, während weitere 514 Afghanen nach dem Asylrecht vorübergehend in Russland leben, berichtet der Kommersant unter Berufung auf Daten des Innenministeriums für das Jahr 2020.
Arbeitsmigranten ohne Hochschulbildung wollen in der Regel in Russland bleiben, während Afghanen mit Hochschulabschluss und Englischkenntnissen, vor allem Ärzte und Ingenieure, Europa vorziehen und Russland als Transitland nutzen, so Fahim.
Feroze träumt davon, dass Russland den Aufenthalt der Afghanen legalisiert, damit sie frei arbeiten, ihren Lebensunterhalt bestreiten und Steuern zahlen können.
„Russland ist kein Land für Flüchtende. Ich selbst habe ihn [diesen Status] unter großen Schwierigkeiten nach 15 Jahren erlangt. Und es dauerte über 20 Jahre, bis ich die Staatsbürgerschaft erhielt, obwohl ich sowohl als Übersetzer als auch für Radio Sputnik arbeitete. Unsere Jungs warten seit mehreren Monaten auf eine Anhörung zum vorläufigen Asyl, obwohl diese innerhalb einer Woche nach Ankunft der Flüchtenden zu erfolgen hat. So läuft es in Russland“, stellt so Feroze abschließend fest.
Russia Beyond hat eine Anfrage an das russische Außenministerium zur Unterstützung afghanischer Flüchtender in Russland gestellt. Der Pressedienst antwortete, dass Fragen zu Migranten in die Zuständigkeit des Innenministeriums und des Bildungsministeriums fallen. Russia Beyond hat eine Anfrage an diese gerichtet, aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch keine Antwort von ihnen erhalten.