Ahmad ist seit seiner Geburt ein Flüchtling. Seine Großeltern verließen nach dem Krieg mit Israel 1948 ihr Heimatland Richtung Syrien. Ahmad wurde in Syrien geboren, doch als Palästinenser erhielt er nicht die syrische Staatsbürgerschaft, obwohl er ähnliche Rechte und Pflichten hatte wie die Syrer. Falls sie eines Tages nach Palästina zurückkehren könnten, sollten die palästinensischen Flüchtlinge „ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft beibehalten“.
Als 2011 der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach und das Land seiner Vorfahren nun zu einem gefährlichen Kriegsgebiet wurde, musste auch Ahmad wie damals seine Großeltern in einem anderen Land Zuflucht suchen. „Ich möchte nicht getötet werden oder, was noch schlimmer ist, selbst töten müssen”, sagt Ahmad. 2012 beantragte er in Russland Asyl. Das ist kein einfacher Weg und erfordert starke Nerven.
„Russland will keine Flüchtlinge aufnehmen“, sagt Jewgeni Jastrebow, Berater für Migrationsfragen beim Zivilhilfe-Komitee, in einem Interview. Er weiß, wovon er spricht: Zivilhilfe hilft seit 1990 Flüchtlingen, Migranten und Vertriebenen, kooperiert mit der UN-Flüchtlingsagentur und bietet Asylbewerbern juristische, medizinische und pädagogische Unterstützung.
Rechtlich gesehen kann die Russische Föderation in Übereinstimmung mit der Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen von 1951 und dem föderalen Gesetz „Über Flüchtlinge“ (rus) Asylbewerber entweder als Flüchtlinge anerkennen oder ihnen dauerhaft oder vorübergehend Asyl gewähren. Darüber wird jedes Jahr neu entschieden.
„Antragsteller werden als Flüchtlinge anerkannt, wenn die Gefahr besteht, aufgrund von Rasse, Glauben, Staatsbürgerschaft, ethnischer Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung in ihrem Heimatland verfolgt zu werden”, heißt es (rus) auf der offiziellen Website des russischen Innenministeriums. Tatsächlich ist es jedoch sehr schwierig, in Russland als Flüchtling anerkannt zu werden.
So erhielten 2018 nur 30 Personen (eng) diesen Status (33 im Jahr 2017, 39 im Jahr 2016). Am 1. Januar 2019 waren 572 Personen in ganz Russland als offiziell anerkannte Flüchtlinge registriert. Das ist für ein so großes Land eine kleine Zahl. Im Jahr 2018 gab es 76.000 Menschen, denen vorübergehend Asyl gewährt wurde, darunter 75.000 Ukrainer aus der umkämpften Region Donbass.
„Es ist fast unmöglich, den Flüchtlingsstatus zu bekommen, auch das vorübergehende Asyl wird nur selten gewährt”, erklärt Jastrebow. „Selbst wenn jemand bereits vorübergehend Asyl erhalten hat, ist es fraglich, ob dies verlängert wird.” Das weiß auch Ahmad nur zu gut.
„Ich bin seit 2006, lange vor dem Krieg, öfter als Saisonarbeiter in Russland gewesen und habe immer kurzfristig ein Visum erhalten“, erzählt Ahmad. Er spricht relativ gut Russisch, sein Onkel und sein Bruder leben in Moskau.
2012 gaben ihm seine in Aleppo verbliebenen Verwandten einen Rat: „Komm nicht zurück, bleib dort. In Syrien ist es jetzt zu gefährlich. Du könntest hier getötet werden.” Als sein Visum ablief, beantragte er vorübergehendes Asyl.
Nach drei Monaten Kampf mit der Einwanderungsbehörde, die immer mehr Dokumente verlangte, war er erfolgreich. „Für drei Jahre wurde mir Asyl gewährt. Ich habe in Moskau gelebt. Meine Familie unterstützte mich und wann immer ich die Möglichkeit hatte, habe ich gearbeitet, Kebab oder andere Sachen verkauft. Wenig Geld, aber besser als nichts“, erinnert sich Ahmad.
Im Jahr 2016 hat sich jedoch alles geändert. Der Migrationsdienst weigerte sich, Ahmads Asyl zu verlängern. „Sie fragten mich: ‚Wann gehst du zurück?‘ Ich sagte: ‚Ich weiß nicht, der Krieg ist noch im Gange, wahrscheinlich, wenn sich alles etwas beruhigt hat.‘”
Doch er wurde abgelehnt. Mit Hilfe des Zivilhilfe-Komitees legte Ahmad Berufung gegen das Urteil ein - es kostete viel Nerven. Die Einwanderungsbehörde schikanierte ihn zu diesem Zeitpunkt.
„Einmal ließ ich mir einen Bart wachsen und sie forderten mich auf, ihn abzurasieren. Was ist mit meinem Bart falsch?!“, empört sich Ahmad. „Ich habe Russen mit längeren Bärten gesehen als meinen ... sogar Lenin trug einen Bart! Ein anderes Mal hieß es: ,Stellen Sie sich ganz hinten an. Die Ukrainer haben Vorrang.’ Ich glaube, sie haben jede Ausrede genutzt, um sich nicht mit meinem Fall beschäftigen zu müssen.”
Etwa ein Jahr lang legte Ahmad vor verschiedenen Gerichten Berufung gegen das Urteil ein, verlor jedoch. Viele Syrer, die in Russland Zuflucht suchten (oder länger bleiben wollten), haben die gleichen Erfahrungen gemacht. So lehnte der Oberste Gerichtshof Russlands im Juni 2018 Beschwerden von zehn syrischen Bürgern ab, denen die Verlängerung des Asyls verweigert worden war. „Die Ereignisse auf syrischem Boden können als Terrorismusbekämpfung und nicht als umfassender Krieg mit ausgeprägter Front betrachtet werden”, zitierte (rus) die Zeitung „Kommersant” das Gericht. Es bestünde keine Lebensgefahr.
„Russia Beyond” hat das russische Innenministerium, das für Asylanträge ist, vergeblich um einen Kommentar zur russischen Flüchtlingspolitik gebeten.
Das heißt, dass Syrer in Russland grundsätzlich als Asylbewerber abgelehnt werden, fasst Jewgeni Jastrebow das Urteil zusammen. „Einmal hörte ich einen Beamten im Migrationszentrum in der Halle laut schreien: ‚Wir geben Syrern kein Asyl! Der Krieg ist vorbei, also geh nach Hause!’“
Ahmad hatte trotz der Schwierigkeiten, die er zu überwinden hatte, vergleichsweise Glück: Seine Frau und seine Tochter verließen Syrien auf einem anderen Weg Richtung Deutschland - über die Türkei, Griechenland und Ungarn. Sie leben nun in Berlin. Im Rahmen der Familienzusammenführung durfte Ahmad nun nachkommen. Bis es soweit war, lebte er jedoch einige Monate illegal in Russland, immer mit der Gefahr entdeckt und in die Heimat abgeschoben zu werden.
„Vielleicht werde ich Moskau vermissen“, sagt er. „Vieles gefällt mir hier sehr gut. Die Stadt ist so sauber, die U-Bahn ist großartig ... aber ich bin hier nicht willkommen.“ Im August 2019 verließ er Russland endgültig.
Nicht jeder Asylbewerber hat so viel Glück wie Ahmad. Andere tauchen in die Illegalität ab. Ihnen droht jederzeit die Abschiebung oder sie kehren unfreiwillig in ihre Heimatländer zurück, was lebensgefährlich sein kann.
Doch Lebensgefahr in der Heimat ist kein Schutz vor Abschiebung. Anfang Juli 2019 wurde Bosobejida Batoma zurück nach Togo geschickt (rus), obwohl er erklärt hatte, dort würden ihm Folter und Tod drohen. Man hat nach der Abschiebung nichts mehr von ihm gehört.
Der Erhalt des Flüchtlingsstatus oder des vorübergehenden Asyls in Russland ist wie ein Lottogewinn, findet Jastrebow: sehr selten und nicht mit Logik zu erklären. „Ich habe so viele Fälle erlebt, in denen Personen, die alle Dokumente vorlegen konnten, das Asyl verweigert wurde. Andererseits gab es den Sudanesen, der mir erzählte, dass er beim Migrationsdienst nur gefragt worden sei, ob er gerne Fußball spiele. Als er das bejahte, durfte er bleiben.”
Es ist schwer, hier eine Logik zu finden - aber auch solche „glücklichen“ Fälle kommen vor, wenn auch sehr selten. Russland ist nicht der beste Ort, um Asyl zu suchen, um es gelinde auszudrücken, so Jastrebow. Aber natürlich haben viele Asylsuchende keine Wahl: Sie fürchten um ihr Leben und sind bestrebt, irgendwohin zu fliehen, selbst in ein Land, in dem sie nicht willkommen sind.
Menschenrechtsanwälte raten, sich strikt an das offizielle Verfahren zu halten. Wenden Sie sich so schnell wie möglich an den Migrationsdienst (am besten mit Hilfe eines Übersetzers und eines Anwalts). Stellen Sie dem Migrationsdienst alle Unterlagen zur Verfügung, die belegen, dass Sie wirklich den Flüchtlingsstatus/Asyl benötigen (dazu sind Sie rechtlich nicht verpflichtet, aber das erhöht de facto Ihre Chancen).
Wenn Ihnen das Asyl verweigert wird, wenden Sie sich auf verschiedenen Ebenen an die Gerichte. Dadurch gewinnen Sie Zeit und können legal in Russland bleiben. Versuchen Sie auch, einen Weg zu finden, sich selbst zu versorgen. Asylbewerber erhalten in Russland keine finanzielle Unterstützung vom Staat. Sie bekommen auch keine Arbeitserlaubnis.
Zu guter Letzt bleibt nur, auf das Beste zu hoffen. Hoffnung zu haben ist eines der wenigen Dinge, das Flüchtlingen überall auf der Welt erlaubt ist.
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