Rassismus-Protest: Warum die Russen nicht niederknien

Vor dem ersten Grand-Prix-Rennen der Formel 1-Saison 2020 auf dem Red Bull Ring in Spielberg, Österreich, unterstützen die Fahrer jeder auf seine Art die Bewegung „Black Lives Matter“.

Vor dem ersten Grand-Prix-Rennen der Formel 1-Saison 2020 auf dem Red Bull Ring in Spielberg, Österreich, unterstützen die Fahrer jeder auf seine Art die Bewegung „Black Lives Matter“.

AP
Das Niederknien ist eine Geste, die die Russen mit Unterdrückung und Unterwerfung verbinden. Das hat seine Ursprünge im 13. Jahrhundert.

Beim Grand Prix der Formel 1 am 5. Juli in Österreich knieten viele der Fahrer vor dem Start nieder. Sie wollten damit ein Zeichen gegen Rassismus und Diskriminierung setzen und ihre Solidarität mit der Black Lives Matter-Bewegung kundtun. Fünf Fahrer blieben jedoch stehen, darunter der einzige Russe, Daniil Kwjat vom Team AlphaTauri. 

Das löste Kritik im Internet aus und die stehenden Fahrer sahen sich Vorwürfen ausgesetzt. 

Die russischen Fans von Kwjat jedoch standen hinter seiner Entscheidung, nicht zu knien.

Warum halten die Russen nichts von der Geste, die durch den US-Footballer Colin Kaepernick im Jahr 2016 als Zeichen des Protestes gegen Rassismus bekannt wurde?  

„Wir haben nichts falsch gemacht“ 

Der erste russische Rennfahrer Witali Petrow sprang Kwjat als einer der ersten zur Seite. „Ich glaube, jeder hat das Recht, seine Ansichten zu äußern. Und jeder kann es auf seine Weise tun. Jeder hat seine eigene Meinung darüber, ob er sich hinkniet oder nicht. Es ist in Ordnung, dazu aufzurufen, sich hinzuknien, doch es ist nicht in Ordnung, jemanden dafür zu kritisieren, wenn er es nicht tut“, so Petrow (rus)

Der russische Parlamentarier und ehemalige professionelle Schwergewichts-Boxer Nikolai Walujew kann mit der Geste ebenfalls nichts anfangen: „Wir knien vor der Landesflagge, dem Vaterland, vielleicht vor unseren Eltern. Ich verstehe es nicht als Geste gegen Rassismus. Ich betrachte mich nicht als Rassisten, aber warum sollte ich mich hinknien? Ich verstehe das überhaupt nicht“, äußerte (rus) der Politiker sein Unverständnis.

Die breite Öffentlichkeit und die russischen F1-Fans drückten ebenfalls ihre Unterstützung für Kwjat aus. 

„Daniil, die Menschen in Russland sind bei dir, schrieb (rus) ein Benutzer. 

„Russen knien nicht“, stellte ein anderer klar. 

„Sich einmal hinzuknien ist nicht dasselbe, wie Afroamerikaner ein Leben lang mit Respekt zu behandeln. Lasst Taten sprechen, nicht Gesten“, forderte ein anderer F1-Fan. 

„Es war gut, dass Du Dich nicht hingekniet hast. Wenn man Dich fragt, warum nicht, dann antworte, dass die Russen niemals einen Völkermord inszeniert und niemals andere Menschen ausgelöscht haben. Wir haben nichts falsch gemacht, wofür wir jetzt in die Knie gehen müssten“, meint ein weiterer Internetnutzer.

Verbeugung vor dem Khan 

Amerikaner und Russen verstehen und interpretieren das Knien auf unterschiedliche Weise. In den USA hat es sich als Zeichen für den Protest gegen Rassendiskriminierung durchgesetzt. In Russland hingegen gilt es als Ausdruck der Unterwürfigkeit.  

Der russische Fürst Alexander Newski vor Batu Khan

Die historischen Wurzeln dieser Betrachtungsweise reichen bis 13. und 14. Jahrhundert zurück, als die Rus von der Goldenen Horde dominiert wurde. Der Mongolenherrscher und Gründer der Goldenen Horde, Batu Khan, der die Kiewer Rus zwischen 1237 und 1242 besetzte, unterwarf die russischen Fürsten. Diese reisten zum Khan, um sich vor ihm zu verneigen und so ihre Ehrerbietung auszudrücken. Manchmal wurden sie jedoch auch gezwungen, niederzuknien. 

Dies war nach mittelalterlicher Tradition eine Geste der Unterwerfung und Demut des Vasallen gegenüber seinem Feudalherren, die hier wieder aufgegriffen wurde.  

Nach dem Stehen an der Ugra im Jahr 1480, bei dem sich die Goldene Horde unter Achmat Khan und die Armee von Iwan III. gegenüberstanden, und dem Ende der tatarisch-mongolischen Herrschaft über Moskau, hörte auch die Praxis der Verbeugung vor den Khans auf. 

„Die Baskaken“ von Sergei Iwanow

Viel später, als der russische Adel als Klasse auftauchte, galt es als Demütigung, vor jemandem niederknien zu müssen. Der Ruf des Adeligen hätte Schaden nehmen können, seine edle Herkunft wäre in Frage gestellt worden. 

Der russische Dichter Alexander Puschkin beschreibt eine solch unwürdige Situation in seinem Roman „Die Hauptmannstochter“:

Ich wurde erneut zum Prätendenten geführt und musste vor ihm knien. Pugatschow streckte mir seine geäderte Hand entgegen. 

„Küss ihm die Hand! Küss ihm die Hand“ wiederholte ein jeder. 

Ich hätte den gewalttätigsten Tod einer solchen bösen Demütigung vorziehen sollen. 

„Das Gericht Pugatschows“ von Arkadij Plastow

Im Gegensatz zum Knien war eine Tradition namens бить челом - (bit ’chelom), zu Deutsch etwa „den Kopf senken“, im alten Russland akzeptiert und weit verbreitet. 

Zunächst bedeutete dieser Ausdruck, den tiefsten Respekt vor einer höher gestellten Autorität auszudrücken. Später kamen noch andere Bedeutungen hinzu, zum Beispiel sich verbeugen, um etwas bitten oder betteln, jemanden begrüßen. 

In der russischen Sprache wurde der Ausdruck in privater Korrespondenz häufig als Begrüßung und Zeichen des Respektes sowie einer ehrenhaften Haltung genutzt.  

So wie es aussieht, betrachten viele zeitgenössische Russen das Knien immer noch als eine Geste der Unterwerfung oder als einen erbärmlichen Appell an eine höhere Autorität, ein Betteln um Gnade. Das ist der Unterschied zwischen Amerikanern und Russen bei der Bewertung dieser Geste.

Wenn sich in Russe weigert, sich hinzuknien, bedeutet das nicht, dass er Rassismus befürwortet. Immerhin trug der russische F1-Fahrer Daniil Kwjat ein Shirt mit der Aufschrift „END RACISM“.

Daniil Kwjat

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