Das Wort красный (krásnyj) bedeutete früher in Russland das Gleich wie heutzutage das Wort красивый (krasívyj, dt.: schön) (deshalb müsste der Rote Platz in Moskau im Deutschen eigentlich Schöner Platz heißen). Diese Ecke war immer der sauberste und ordentlichste Ort im Haus, denn dort befanden sich die Ikonen des Hauses – deshalb wurde sie rote, d.h. eigentlich schöne Ecke genannt.
Die ersten „roten Ecken“ tauchten in russischen Landhäusern nach der Christianisierung des Landes auf (offiziell geschah dies im Sommer des Jahres 988, aber dieses Datum ist formal, denn ein solcher Prozess zieht sich über viele Jahre hin). War bis dahin, während des Heidentums, der heilige Ort im Haus der Herd, so wurde dies nach der Annahme des Christentums eine Ecke mit Ikonen. Die Ikonen wurden dort entsprechend der kirchlichen Hierarchie aufgestellt, genau wie in der Kirche.
Für die Wahl der Ecke waren zwei Faktoren ausschlaggebend: die Himmelsrichtung und der Standort des Herdes, der nach wie vor eine wichtige spirituelle Funktion hatte. Die „rote Ecke“ befand sich immer im südlichen, östlichen oder südöstlichen Teil des Raumes, aber niemals im westlichen oder nördlichen Teil, die mit dem Tod und unreinen Kräften in Verbindung gebracht wurde. Außerdem war die Ecke genau diagonal zum Herd platziert, so dass jeder, der das Haus betrat, als erstes die Ikonen sah.
Das besondere Verhältnis zu Ikonen spiegelte sich in den grundlegenden Ritualen wider: zur Geburt, Hochzeit und Beerdigung. Wenn zum Beispiel eine Trauerzeremonie im Haus stattfand, wurde der Verstorbene mit dem Kopf in Richtung der Ikonen aufgebahrt. In der Rus glaubte man, dass an den Gedenktagen auch die Seelen der Vorfahren anwesend seien.
In der „roten Ecke“ fand auch die Brautwerbung statt oder wurde das Brautgeld zum „Freikauf“ der Braut bezahlt. Wenn die Braut ihr Heim verließ, um zum Haus des Bräutigams zu gehen, wurde sie direkt an diese Ecke geführt.
Überschritt ein Gast die Schwelle des Hauses, wandt er sich zuerst den Ikonen zu und bekreuzigte sich und erst dann begrüßte er die Gastgeber. Ein russisches Sprichwort lautet: Без Бога ни до порога (Bes Bóga ni do paróga, dt.: Ohne Gott nicht bis zur Türschwelle). Das bedeutet, dass man zuerst Gott und dann dem Hausherrn Respekt zollen soll.
Schließlich gab es an Festtagen keinen schmuckvolleren Ort im Haus als die „rote Ecke“. Sie war mit frischen Blumen, Kerzen und Handtüchern dekoriert. Letztere hatte eine besondere Bedeutung.
Die alte Tradition, Heiligenbilder mit Handtüchern zu schmücken, geht auf eine biblische Legende über eines der Wunder Jesu zurück. Demnach schickte König Abgar V. von Edessa, der an Aussatz litt, seine Diener zu Christus mit der Bitte, ihn zu heilen. Aber Jesus bat nur um einen Krug Wasser und ein Tuch. Er wusch und wischte sich das Gesicht ab, dessen Abbild sich auf dem Tuch einprägte. Die Diener des Königs brachten das Tuch zu Abgar und dieser wurde sofort geheilt, als er es berührte. Die Legende besagt, dass das Grabtuch jahrhundertelang als Reliquie aufbewahrt wurde, aber im Mittelalter verloren ging.
Das Tuch, mit dem die orthodoxen Gläubigen ihre Ikonen bedecken, wird Ruschnik, göttliches Handtuch oder Boschniza genannt. Es ist ein langes, schmales Handtuch, das nur an den Enden rot und schwarz bestickt ist. An Wochentagen werden die Ikonen mit einem Alltagstuch bedeckt, an Feiertagen mit einem kunstvolleren Festtuch.
Ja, in einigen gläubigen orthodoxen Familien wird diese alte Tradition noch gepflegt. Natürlich ist es schwieriger geworden, den Platz für die „rote Ecke“ nach allen Regeln zu wählen – in modernen Häusern gibt es keine Öfen, sondern nur noch, zum Beispiel, in den Dörfern. Außerdem erlaubt es der Grundriss der Wohnung nicht immer, eine Ecke in der richtigen Richtung zu wählen.
Dennoch versucht man, die Ikonen an dem würdigsten Ort des Hauses zu platzieren, an dem alle Familienmitglieder und Gäste zusammenkommen. In der Regel ist dies die östlichste Ecke des Wohnzimmers.
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