1962 wurde in der Petrowka-Straße im Zentrum Moskaus eine neue Boutique eröffnet. In den folgenden Jahren war sie einer der begehrtesten Einkaufsorte für Frauen aus der ganzen Sowjetunion.
Der Name der Boutique – „Wanda“ – wurde sowohl in kyrillischen als auch in lateinischen Buchstaben geschrieben. Das kyrillische Schild dominierte, während die lateinische Aufschrift nur an den Schaufenstern zu sehen war. In jedem Fall war es nach sowjetischen Maßstäben eine Seltenheit. Die lateinischen Buchstaben und der ungewöhnliche Name der Boutique deuteten darauf hin, dass es seltene Waren aus dem Ausland gab – etwas, das sich alle Sowjetbürgerinnen wünschten.
Zum Ursprung des Namens gibt es zwei Theorien. Einige glauben, dass der Name Wanda – ein in Polen beliebter Mädchenname – ein Hinweis auf das Land war, aus dem die Waren stammten.
Eine andere – etwas pikante – Theorie besagt, dass „Wanda“ eine symbolische Bedeutung habe. Der Name könnte sich auf einen der vielen Spitznamen beziehen, die von einer Elite-Sexarbeiterin verwendet wurden, die sich vor der Russischen Revolution von 1917 in einem Hotel auf der anderen Straßenseite mit ihren Kunden traf.
Die sagenhafte Wanda war die einzige Zeugin des mysteriösen Todes einer legendären Persönlichkeit jener Zeit – des Generals der Russischen Armee Michail Skobelew – im Jahr 1882. Diejenigen, die der sowjetischen Boutique den Namen „Wanda“ gaben, so glaubten manche, verspotteten damit die Regierung, weil die ihrer Meinung nach die Augen vor Prostitution verschließe. Diese Theorie ist jedoch reine Fantasie.
Das Modegeschäft verkaufte Waren, die in der Volksrepublik Polen, einem der wichtigsten sowjetischen Satellitenstaaten in Europa, hergestellt wurden. Das Angebot war riesig: von Teppichen und Kronleuchter bis hin zu Schallplatten und modernem Porzellan. Die beliebtesten Waren waren jedoch Kosmetik, Parfüm und modische Kleidung.
Sowjetische Frauen konnten dort Strümpfe kaufen, die in der UdSSR Mangelware waren. Außerdem gab es Unterwäsche, Handtaschen, Sonnenbrillen und Schmuck. Angesichts des großen Warendefizits in der UdSSR kam das Angebot von „Wanda“ für viele Sowjetbürger einem Wunder gleich.
Es erstaunt also nicht, dass Frauen aus der ganzen Sowjetunion die Boutique besuchen wollten, wenn sie in Moskau waren. Infolgedessen stand vor dem Geschäft stets eine lange Schlange.
Diejenigen, die stoisch gewartet hatten, um hineinzukommen, bekamen schließlich die Möglichkeit, aus einer Fülle von Waren zu wählen, von denen die meisten Sowjetbürger nur träumen konnten: Kosmetik, Mascara, Shampoos, Lidschatten, Nagellacke, Hautpflegeprodukte, seltene Lippenstifte und das typische polnische Parfüm warteten in den Regalen auf die glücklichen Käufer.
Die Boutique hatte auch ein Angebot für Männer: „Polsilver“-Rasierklingen, Eau de Cologne und After-Shave-Lotionen.
Die Fülle an Käufern und die lange Wartezeit am Eingang schufen gute Bedingungen für Schwarzmarkthändler, die im Laden größere Mengen einkauften und diese dann an Leute weiterverkauften, die keine Zeit hatten, in der Schlange zu warten.
Oft war dies ein Familiengeschäft: Ein Ehemann stand an einem sicheren Ort mit Taschen voller knapper Waren. Seine Frau bot dann einzelne Waren mit einem Aufschlag den Leuten in der Schlange an. Wenn die Polizei sie erwischte, bekam die Frau keine ernsthaften Probleme, da sie nur wenige Artikel bei sich hatte.
Schließlich schloss die kultige Boutique ihre Türen. Als die Sowjetunion zusammenbrach, öffnete Russland seine Wirtschaft für ausländische Waren, die den Markt schnell überschwemmten und das ganze Konzept einer Luxus-Boutique mit im Ausland hergestellten Waren obsolet machten.