Der Ingenieur David Bavans war 1988 zum ersten Mal auf einer Geschäftsreise in der Sowjetunion. Seine Aufgabe war es, Maschinen bei der Forschungs- und Produktionsvereinigung Energia in Woronesch in Betrieb zu nehmen. Doch aufgrund technischer Probleme blieb er statt sechs Wochen ganze sechs Monate im Land. „Der Winter kam und mit ihm die Kälte“, erinnert sich David. Er wartete nicht darauf, dass ihm warme Kleidung von zu Hause geschickt werden würde. „Ich ging auf den Markt und kaufte Filzstiefel, lange Unterwäsche, eine Wattehose – einfach alles! So konnte ich in Russland leben“, lacht der Engländer. Und dann ist er tatsächlich geblieben.
Vom englischen Leicester zum russischen Woronesch
David wurde 1956 in Leicester, England, geboren. Er sagt von sich selbst, er sei „mit einem Schraubenschlüssel geboren worden“. Sein Vater, ebenfalls Ingenieur, betraute seinen Sohn von klein auf mit der Reparatur aller möglichen mechanischen Dinge. Im Alter von sechs Jahren wurde er mit der Reparatur eines Motorrads beauftragt und mit zwölf galt er bereits als Profi. Jetzt sind Davids älterer Bruder und seine Schwester längst im Ruhestand und er arbeitet immer noch: „Ich bin der einzige Freak: Mit 65 arbeite ich immer noch und werde davon high!“
Heute ist Bevans als Schlosser in Woronesch tätig und für die Herstellung einer Vielzahl von Elektromotoren für verschiedenste Geräte und Anlagen verantwortlich, angefangen von Aufzügen und Eisenbahnen bis hin zu automatischen Schiebern für Herde. „Jetzt, wo die Aufträge zur Importsubstitution eingehen, gibt es viel zu tun.“
Ende der Achtzigerjahre ging das Unternehmen, das ihn nach Russland geschickt hatte, in Konkurs und er wurde von Sowjet Energia eingeladen, weiter zu arbeiten. Wie David sagt, begann die Industrie damals in England unter Margaret Thatcher zu leiden, und so nahm er die Einladung an.
Erste Eindrücke von Russland
David erinnert sich, dass er sich bei seinem ersten Besuch wie ein hilfloses Kind im Körper eines Erwachsenen fühlte. „Alles, was geschrieben steht, kann man nicht lesen, alles, was man hört, kann man nicht verstehen.“ Auch mit der Bevölkerung konnte er sich nicht unterhalten – damals sprach kaum ein Sowjetbürger Englisch.
Es gab einmal eine Kuriosität. „Mein Chef und ich – er war vor mir in die UdSSR gereist – gingen in den Lebensmittelladen. Es war Morgen und unser übliches Frühstück bestand aus Eiern und Würstchen. Der Chef zeigte auf die Würstchen und sagte: ,Sechs Stück!ʻ Aber in der Auslage waren keine Eier zu sehen. Er hatte vergessen, wie sie auf Russisch heißen... Er überlegte und überlegte, dann sagt er auf Russisch: ,Ich will zehn davon!ʻ und machten so…“ – David fängt an zu gackern, schlägt mit den Armen wie mit Flügeln, erhebt sich leicht über den Tisch, als ob er ein unsichtbares Ei von irgendwo hinten herausziehen würde. „Die Verkäuferinnen lachten, der Chef blieb den Verkäuferinnen in Erinnerung – und wir mussten hier nie wieder in der Schlange warten.“
Die Vorzüge des „russischen Systems“
David sagt, er sei sehr wählerisch, was das Essen angeht, und als er zum ersten Mal heiratete, nahm ihn seine russische Frau mit zu Besuch zu ihren Verwanden. Es gab natürlich eine riesige Tafel und David wurde aufgefordert, alles zu probieren. Seine Frau verteidigte ihn: „Lasst ihn in Ruhe – er kann alleine essen! Also... das isst er nicht, das isst er nicht und das...“. Die Verwandten fragten: „Armes Ding, wie ernährst du ihn?“ Und seine Frau antwortete: „Er kocht perfekt selbst.“
David liebt die russische Küche, aber was er immer noch nicht ausstehen kann, sind eingelegte Gurken und Tomaten, Knoblauch, Schwarzbrot und Hering.
Generell war eine der größten Überraschungen für David, dass in der späten Sowjetunion und in den Neunzigerjahren die Regale in den Geschäften zwar leer, die Kühlschränke der Leute jedoch voll waren – und die Tische sich vor Speisen bogen. Man konnte zu Besuch gehen und sich dort durchfuttern. „Ich fragte: Was ist der Trick? Sie sagten mir: Das russische System“.
David mag die Offenheit der Einheimischen. Die Tatsache, dass man sich hier die Hand gibt, obwohl das in England nicht üblich ist. „Es sind sehr schwierige Zeiten für Russland, aber trotzdem fühle ich mich hier viel freier als in England oder Amerika. Wenn ich spazieren gehen will, muss ich nicht erst eine Karte nehmen und schauen, wo ich spazieren gehen darf, welches Feld jemand anderem gehört. Dort muss man das wissen“, erzählt er.
„Hier sagt man gerne: Im Westen herrscht Ordnung. Aber das hat seinen Preis: Dies ist verboten, jenes ist verboten. Hier ist die Ordnung spezifisch. Ich erinnere mich an einen Vorfall. In den Neunzigerjahren kam ich in die britische Botschaft in Moskau. Ich wollte auf die Toilette gehen, aber sie war geschlossen: ,Tut uns leid!ʻ, sagten sie. ,Jemand hat den Schwimmer aus dem Spülkasten gestohlen. Es funktioniert nicht!ʻ Ich ging nach draußen, da war ein rostiges Schloss an der öffentlichen Toilette. Da stand ein Polizist in der Nähe, also ging ich zu ihm.
Ich erklärte ihm, wonach ich suchte. Der Polizist sah sich um und sagte leise: ,Es gibt hier viele Bäume, rennen Sie schnell in die Büsche!ʻ Können Sie sich vorstellen, dass ein englischer Polizist Ihnen so antwortet? Nein! Er wird dir hinterherlaufen, auch wenn die nächste Toilette auf dem Mond ist.“
Faszination für die Sterne
David ist ein stadtbekannter Liebhaber der Astronomie, für die er in Russland eine Leidenschaft entwickelte. „Ich hatte ein altes sowjetisches Spektiv, ein Beobachtungsfernrohr. Spät abends saß ich am Gartenhaus und betrachtete die Sterne, schaute etwa dreißig Minuten lang und begann, Details zu erkennen: den Jupiter mit seinen Monden, den Lagunennebel – ich war beeindruckt.“ Dann kaufte er sich ein gutes Teleskop. „Und es ging los: Vorträge, Workshops, so genannte trotuarkas – Bürgersteig-Astronomie. Da geht man mit dem Teleskop auf die Straße und lässt die normalen Passanten hindurchschauen.“
Ein Auto statt eines Gehaltsschecks
David fährt einen 25 Jahre alten Oka. Irgendwann in den Neunzigerjahren erhielt er ihn als Teil seines Gehalts. Sein geliebtes Teleskop nimmt die Hälfte des Innenraums ein. Er scherzt: „Entweder ist meine Frau oder das Teleskop mit mir im Auto.
Normalerweise wird die russische Autoindustrie kritisiert, aber David ist mit dem Auto zufrieden. Er sagt, es sei an der Zeit, ein neues Auto zu kaufen, aber er kann seine britische Rente wegen der Sanktionen nicht bekommen. „Mit diesem Geld ist es wie in Russland in den Neunzigerjahren: Was früher für ein Auto gereicht hätte, reicht jetzt für vier Reifen.“
Im Allgemeinen ist David eine erstaunlich bunte Mischung aus einem lebhaften englischen Charakter und einer rätselhaften russischen Seele. „Was haben Sie erwartet? Ich war 33 Jahre dort und bin fast 33 Jahre hier! In der Tat sind wir alle, die Menschen auf der Erde, untereinander gleich. Die Russen haben einfach keine strengen Regeln.“
Russia Beyond dankt Swetlana Lomakina und dem Projekt From Russia with Love der Zeitschrift ,The Nationʻ für die Unterstützung bei der Erstellung des Materials.