„Was habt ihr Russen gegen Anspannung und Stress?“
„Wodka.“
Das sagt Arnold Schwarzeneggers Figur aus dem legendären Film Red Heat (1988). Und russische Männer (sie heißen alle Boris oder Iwan) sind dafür bekannt, dass sie seit ihrer Kindheit mit einer AK-47 spielen, eine Pelzmütze mit Ohrenklappen tragen, Balalaikas lieben und einen Bären zu Hause an einer Kette haben. Wenn sie trinken, sagen sie Na sdarowije! und sie trinken Wodka anstelle von Wasser. Sie alle sind Mitglieder der großen und schrecklichen russischen Mafia. Und sie tragen entweder Hosenanzüge oder Adidas-Trainingsanzüge.
Auch bei den russischen Frauen ist alles klar – man sollte ihnen besser nicht trauen. Sie sind alle atemberaubende Schönheiten namens Natascha, aber in Wirklichkeit sind sie geheime KGB-Agenten, die bei jeder Gelegenheit versuchen werden, dich zu töten.
Wir in Russland haben dazu nur eines zu sagen (und das natürlich mit dem entsprechenden Gesichtsausdruck zu begleiten): Kljúkwa!
Aber was hat eine Beere damit zu tun? (Kljúkwa ist der russische Name für Moosbeere)
Die lächerlichsten Klischees und Vorstellungen von Ausländern über Russland, die wenig (oder gar nicht) mit der Realität übereinstimmen, werden Kljúkwa genannt. Die vollständige Version des Ausdrucks lautet развестистая клюква (raswestístaja kljúkwa, dt.: weitverzweigte Moosbeere) und es gibt eine Definition dafür in Oschegows erklärendem Wörterbuch: Es ist ein ironischer Ausdruck für „etwas vollkommen Unwahres, das völlige Unkenntnis über das Thema offenbart“. Eben diese vollständige Version – raswestístaja kljúkwa – offenbart die Bedeutung der Redewendung.
Wer schon einmal eine Moosbeere in freier Wildbahn gesehen hat, weiß, dass sie an nur wenige Zentimeter hohen Sträuchern wächst, die nicht sehr verzweigt sind. Mit anderen Worten: In der Natur gibt es keine weitverzweigten Moosbeeren. Doch Ausländer, die im späten 19. Jahrhundert Reiseberichte über Russland schrieben, behaupteten, sie seien unter „weitverzweigten Moosbeeren“ spazieren gegangen, was die Russen zum Lachen brachte. Einem Bericht zufolge wurde der Ausspruch in eben jener Zeit zu einer Redewendung.
Wahrscheinlich handelt es sich um einen trivialen Übersetzungsfehler: Im Englischen gibt es für die Moosbeere das Wort Cranberry, aber auch der Amerikanische Schneeball (ein Strauch mit roten essbaren Beeren, der den Früchten der Moosbeere ähnelt und offiziell Highbush Cranberry heißt), wird verkürzt so genannt. Im Russischen heißt diese Hochbusch-Moosbeere калина (kalína) und man kann tatsächlich unter ihr spazieren gehen: Ein Schneeball-Strauch kann bis zu 5 Meter hoch werden.
Aber ob es sich nun um eine lächerliche Fiktion des Erzählers oder um einen Übersetzungsfehler handelt, das Oxymoron der Kljúkwa hat sich als äußerst nützlich erwiesen. Denn solche absurden Vorstellungen über Russland gab es schon damals zuhauf. So zitierte die Zeitung Moskowskije wedemosti 1871 aus einem Artikel über Moskau, der in der populären Pariser Wochenzeitung L'Illustration erschienen war. Dort hieß es, die Christ-Erlöser-Kathedrale sei „das älteste der innerhalb der Kremlmauern errichteten religiösen Bauwerke“ – damals war sie noch nicht einmal fertiggestellt und hatte nichts mit dem Kreml zu tun. Der Autor von Moskowskije wedemosti ließ es sich nicht nehmen, zu witzeln: „Wir erinnern uns an die seligen Zeiten, als ein französischer Reisender erzählte, wie er in Russland sous l'ombre d'une klukva... (unter dem Schatten einer Moosbeere) saß“.
Der Ausdruck wurde wiederholt in Feuilletons russischer Publikationen verwendet und ging schnell in den alltäglichen Sprachgebrauch über. Die Liste der als Kljúkwa anerkannten Phänomene wuchs und veränderte sich mit der Zeit. Im Jahr 1908 war Russland im Ausland als ein Land bekannt, „in dem die Bauern im Schatten eines hoch aufragenden Moosbeerenstrauchs ein Getränk namens Samowar trinken“ (Samowar ist kein Getränk, sondern ein traditioneller russischer Wasserkessel), und jetzt – als ein Land, in dem jeder zweite ein Spion und absolut jeder ein Kommunist ist.