In vielen russischen Städten sind alte Holzhäuser aus jahrhundertealten Holzbalken, mit geschnitzten Brettern und Türmchen verziert, erhalten geblieben. Besonders prägend für das Stadtbild sind sie in den ehemaligen Handelsstädten an der Wolga und in Sibirien, obwohl viele eine Instandsetzung und Restaurierung dringend benötigen. Die Einwohner von Samara beschlossen, mit gutem Beispiel voranzugehen: Hier bildete sich 2015 eine Gemeinschaft von Menschen, die auf eigene Kosten mehrere Fassaden im Stadtzentrum restaurierten. Sie nannten ihre Aktion „Tom-Sawyer-Fest“. Sie erinnern sich vielleicht, wie Mark Twains Held die Jungen aus der Nachbarschaft dazu brachte, den Zaun zu streichen, sodass sie es nicht als Arbeit, sondern als Spaß ansahen?
Ein Recht auf Stadt
„Bei unserem Festival geht es weniger um Häuser, als vielmehr um Menschen“, sagt Tatjana Surkowa, föderale Koordinatorin der Gemeinschaft. „Es ist uns wichtig zu zeigen, dass jeder ein „Recht auf Stadt“ hat, und dass es eine Form gibt, in der man sich dafür einbringen kann.“
Es begann alles im Jahr 2015. Damals arbeitete Tatjana zusammen mit dem Historiker und Chefredakteur Andrej Kotschetkow bei einer lokalen Zeitschrift. Sie schrieben Artikel, unternahmen Führungen und „öffneten den Einwohnern Samaras die Augen für den Reichtum Ihrer Stadt“.
„Wir befanden uns in einer bedrückenden Situation: massenhaft Holzhäuser, die alle baufällig waren“, sagt Tatjana. „Und dann kam Andrej vom „Forum Lebendige Städte“ in Ischewsk mit der Idee, dass wir selbst hingehen und sie bemalen könnten.“
„Als erstes wählten wir drei Häuser in der Lew-Tolstoi-Straße im historischen Zentrum. Sie waren nicht offiziell als Kulturerbe eingestuft, sodass wir für die Renovierung der Fassaden keine besondere Genehmigung benötigten.“
Sie berichteten in einer Zeitschrift über ihre Kampagne und luden alle ein, sich daran zu beteiligen. „Am ersten Tag meldeten sich 50 Freiwillige, um ihre Hilfe anzubieten“, erinnert sich Tatjana. „Das Ergebnis hat uns verblüfft. Die Medien wurden aufmerksam auf uns, Leute aus anderen Städten schrieben, dass sie auch mitmachen wollten.“ Auch der finnische Schauspieler Ville Haapasalo, der zu dieser Zeit Programme über Reisen in Russland drehte, nahm an dem Festival teil.
Natürlich kann man nicht einfach vor einem Haus auftauchen und die Fassade neu streichen. Zunächst gingen die Mitstreiter der Kampagne von Tür zu Tür, holten die schriftliche Zustimmung der Mieter ein, stellten der Stadtverwaltung das Projekt vor (was bedeutete, professionelle Architekten und Restauratoren einzubeziehen) und suchten Partner für den Kauf von Baumaterialien. Der Aufwand war enorm.
Schon im nächsten Jahr schlossen sich Kasan und Busuluk (Gebiet Orenburg) Samara an, und ein weiteres Jahr später fand die erste Tom-Sawyer-Fest-Schulung statt, um künftigen Koordinatoren in den Regionen das nötige Know-how zu vermitteln.
Ein Ort der Inspiration
„Ein paar Jahre lang habe ich mir das Festival in Kasan angesehen und habe schließlich auch an einer Schulung für Koordinatoren teilgenommen“, sagt Ljubow Jegoritschewa aus der Stadt Nabereschnyje Tschelny in Tatarstan. „Wir leben in einer Industriestadt, aber 30 Kilometer entfernt liegt das hübsche Handelsstädtchen Jelabuga, wohin wir oft für ein Wochenende fahren, ein Ort der Inspiration.“
2021 schließlich fand Ljubow in Nabereschnyje Tschelny Gleichgesinnte, die von der Idee begeistert waren, die Fassaden der Häuser in Jelabuga, einer Stadt mit tausendjähriger Geschichte, zu restaurieren.
„Wir nahmen uns ein einstöckiges Haus in der Spasskaja Straße im Zentrum der Stadt vor. Es gehört nicht zu den Objekten des Kulturerbes, liegt aber in der Nähe von Denkmälern der Architektur.“
Dem Team gelang es nicht nur, eine Einigung mit dem derzeitigen Eigentümer des Hauses zu erzielen, sondern Kontakt zu den Nachkommen der Kaufleute herzustellen, denen das Haus vor mehr als hundert Jahren gehörte. Sogar alte Fotos aus der Zeit vor der Revolution von 1917 fanden sich.
„Wir arbeiteten an diesem Haus zwei Saisons lang, da wir aus Nabereschnyje Tschelny anreisten und im Wesentlichen nur an den Wochenenden Zeit hatten“, sagt Ljubow: „Wir wurden von der Verwaltung und dem Jelabuga-Museum unterstützt, die Einheimischen dagegen waren bislang leider nur Beobachter.“
In zwei Saisons waren allein an diesem Haus etwa 70 Personen beteiligt. Und jetzt überlegen Ljubow und ihr Team, welches Haus sie 2023 übernehmen sollen:
„Wir wollen eine Beziehung zu den Bürgern aufbauen, damit das Projekt auch für sie wichtig wird.“
Mit gutem Beispiel vorangehen
Bis heute hat das „Festival zur Wiederherstellung der historischen Umwelt“ in 75 Städten Russlands (und sogar in der Stadt Karakol in Kirgisistan) mindestens einmal stattgefunden und ist in etwa 40 Städten zu einer regelmäßigen Veranstaltung geworden. Das Festival hat Partner gefunden, vor allem Bauunternehmen, die Werkzeuge und Materialien kostenlos zur Verfügung stellen. Oft helfen die Stadtverwaltungen bei der Beseitigung von Müll, stellen Gerüste zur Verfügung oder geben den Freiwilligen kleine Zuschüsse.
Seitdem wurden 169 Häuser restauriert, die Arbeiten an 17 weiteren dauern noch an. In einigen Städten stehen 2-3 Häuser je Sommersaison (die in Russland nur 3-4 Monate lang oder sogar kürzer ist) auf dem Programm, in anderen nur eines. Neben den Häusern werden auch Haltestellen aus sowjetischer Zeit, Mosaike, Tore und Zäune restauriert.
Swjatoslaw Konowalow, von Beruf Historiker, ist Mitglied der Omsker Niederlassung der Gesellschaft für den Schutz von Kulturdenkmälern (Sibirien) und bezeichnet die Restaurierung von Holzhäusern in seiner Stadt als eine logische Erweiterung seiner Aktivitäten. Das erste Haus hat er 2018 gemeinsam mit Gleichgesinnten saniert. Jetzt ist das vierte fertig.
„Das Haus muss eine große soziale Aufmerksamkeit auf sich ziehen und das Interesse der Menschen erwecken, es muss eine Art romantisches Highlight werden“, erklärt Swjatoslaw. „In dieser Saison war es die Ruine eines Turms, den wir rekonstruiert haben. Für das Projekt haben wir einen Ingenieur hinzugezogen, der für uns einen Bauplan gezeichnet hat, um die Statik des Turms zu sichern.“
Je nach Wetterlage kommen jeden Tag vier bis 15 Freiwillige zur Restaurierung. Man braucht keine besonderen Fähigkeiten, nur Motivation, sagt Swjatoslaw. „Ich kenne mich mit Restaurierungsarbeiten aus und kann erklären, wie man eine bestimmte Arbeit richtig ausführt.“
Wie er sagt, hat die Gemeinschaft nicht das Ziel, alle alten Häuser zu restaurieren. „Das Wichtigste ist, mit gutem Beispiel voranzugehen und ein Bewusstsein unter den Eigentümern historischer Gebäude dafür zu schaffen, keine baufälligen Gebäude, sondern ein kulturelles Erbe mit großem Potenzial zu besitzen.“