Was steckt hinter den kunstvollen russischen Fenstereinfassungen?

Anton Butsenko/TASS
Die alten und kunstvollen Holzrahmen russischer Häuser erzählen uns viel über den Besitzer.

Wenn Sie schon einmal in einem russischen Dorf waren, werden Sie wahrscheinlich bemerkt haben, dass alle traditionellen Holzhäuser dekorative Schnitzelemente um die Fenster haben - sie werden Nalitschniki genannt. Sie sind wunderschön anzusehen, oft möchte man den Blick gar nicht mehr abwenden. Doch sie haben nicht nur eine dekorative Funktion. 

Europäische Architektur angepasst an russische Realitäten 

Eine russische Fenstereinfassung hat zwei Hauptfunktionen. Eine ist rein praktisch: Die Lücke zwischen dem Fensterrahmen und der Holzwand wird abgedeckt. So wird verhindert, dass Zugluft entsteht. Die andere Funktion ist dekorativer Natur: Das Gebäude wird durch die Gestaltung der Fensterumrandung aufgewertet. Das war zunächst sogar die wichtigste Funktion.

„Anfangs war die Fensterumrandung ein Element der europäischen Steinbau-Architektur. Sie kam nach Russland, als italienische Architekten hierher eingeladen wurden“, sagt der Fotograf Iwan Chafisow, der das virtuelle Museum Nalichniki.com aufgebaut hat. Seit 2007 reist er auf der Suche nach den interessantesten Fensterumrandungen durch das Land. „Zu den ersten russischen Gebäuden mit Fenstereinfassungen aus Stein gehörten die Himmelfahrtskirche in Kolomenskoje und der Glockenturm Iwan des Großen im Kreml - dies war zu Beginn des 16. Jahrhunderts.“

Himmelfahrtskirche in Kolomenskoje

Nalitschniki aus Holz erschienen erst ab dem 17. Jahrhundert, als sich Glasfenster in ganz Russland ausbreiteten. Bis dahin waren die Fenster sehr klein und durch Fensterläden geschlossen, um zu verhindern, dass die Wärme aus dem Haus entweichen konnte. Je mehr Fenster ein Haus hatte, desto wohlhabender war sein Besitzer. Unter Peter dem Großen begann sich die Glasherstellung zu entwickeln. Nach und nach wurden die Häuser mit Fenstern, wie wir sie heute kennen, ausgestattet, zunächst die der Wohlhabenden, später auch die Häuser der Bauern. Der Raum zwischen dem Fensterrahmen und der Wand wurde zum Schutz vor Zugluft mit Füllmaterial abgedichtet. Darüber kam eine Abdeckung aus Holz. 

Höchstwahrscheinlich kannten die Bauern die steinernen Fensterumrandungen an den Häusern der Bojaren und Adeligen. Doch da Stein sehr teuer war, nutzten sie Holz und kopierten die kunstvollen Entwürfe, meint Iwan Chafisow: „Es ist europäische Architektur, die den russischen Realitäten angepasst wurde.“  

Wo finden sich die schönsten Fenstereinfassungen Russlands? 

Anfangs wurden die Häuser nach italienischem Vorbild geschmückt: Mit Segment- und Dreiecksgiebeln. Später gab es auch andere Formen. Unter den Häusern aus der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die italienische Tradition nur noch in der Stadt Sewsk in der Region Brjansk zu finden.

In Südrussland wurden neben Fensterumrandungen auch bemalte oder geschnitzte Fensterläden hergestellt - dies hängt natürlich mit der großen Anzahl sonniger Tage dort zusammen.

Iwan Chafisow sagt, dass man die kompliziertesten Schnitzereien in den sibirischen Städten und Dörfern finden könne. „Sibirien war unser Alaska, die Goldminenregion, in der die Menschen viel Geld verdienten, erklärt er. „Sie haben Holzschnitzer aus St. Petersburg beauftragt. Die Villen in Sibirien sind riesig, mit viel größeren Fenstern als üblich. Die Fensterumrandungen sind dort äußerst phantasievoll gestaltet.“ In Sibirien mangelte es zudem nicht an Material: harzhaltige Koniferen sind das beste Holz für Fensterumrandungen.

In Sibirien und Nischni Nowgorod waren geschnitzte Reliefentwürfe üblich. 

In anderen Regionen sind Fensterumrandungen mit Durchbrüchen im Holz weit verbreitet.  In Burjatien, Udmurtien, Tschuwaschien und Tatarstan sowie in Guslitsy, Taldom und Kimry in der Region Moskau sind noch viele interessante Beispiele für Fensterumrandungen erhalten, die mit Schnitzereien verziert sind.

Was bedeuten die verschiedenen Entwürfe? 

Wenn Sie die Entwürfe genau untersuchen, können Sie häufig Blumen, Schriftrollen, Sterne oder Vögel entdecken. Einige Leute glauben, dass Fensterumrandungen Schutz vor dem „bösen Blick“ böten, aber diese Auffassung stammt laut Iwan Chafisow erst aus den 1980er Jahren. Die Muster in Regionen, in denen Menschen unterschiedlichen Glaubens leben, sind sehr ähnlich. 

Die Holzschnitzer selbst sehen in ihren Mustern nur eine dekorative Funktion: „Früher hatten Holzschnitzer-Gemeinschaften ihr eigenes Muster und schnitzten dies im ganzen Land“, sagt Aleksandr Saltykow, ein Tischlermeister aus Moskau.

Muster wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Die Holzschnitzer suchten Inspiration in den alltäglichsten Dingen - Stickereien, Tapeten oder in einem Päckchen Seife oder Butter. Immerhin kannten die Bauern keine Architekturmagazine. 

In der Sowjetzeit erschienen Fensterumrandungen mit Hammer- und Sichelmotiven sowie Porträts von Stalin. Und heute kann jeder seine Umrandung nach eigenen Entwürfen schnitzen lassen. 

Im Dorf Nawaschino in der Region Nischni Nowgorod entdeckte Iwan Chafisow ein Haus mit Fensterumrandungen, die mit Kirchensymbolen verziert waren, und in Perm eines mit Spielkarten.

„Heute mixen wir die unterschiedlichsten Elemente und Stile, vom Jugendstil bis zum Klassizismus“, sagt Aleksandr Saltykow. „Viele Menschen wollen selbst kreativ werden. Sie besuchen meine Kurse und wollen lernen, wie man alte rustikale Fensterumrandungen selbst restauriert oder neue für das eigene Haus baut, auch wenn das aus praktischen Gründen nicht unbedingt erforderlich ist.“ 

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