Könnten Sie in einem Rentierzüchterzelt leben? (FOTO)

Lifestyle
ANNA SOROKINA
Die Nomaden des Hohen Nordens verbringen ihr ganzes Leben auf Reisen und folgen ihren Rentieren. Ihr arktisches mobiles Haus und all ihre Habseligkeiten ziehen sie auf Schlitten hinter sich her.

Im Hohen Norden Russlands gibt es neben der Stadt- und Landbevölkerung auch eine nomadische Lebensweise. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Rentierzüchter. Die Rentiere wandern ständig auf der Suche nach schmackhaftem Futter weiter und die Menschen, die sie züchten, müssen mit ihnen ziehen.

Die meisten russischen Nomaden – etwa 10.000 Personen – leben auf der sibirischen Halbinsel Jamal. Es handelt sich um die indigenen Völker des Nordens: die Nenzen, Chanten und Selkupen. Einmal im Jahr kommen sie mit ihren Zelten, den Tschums, zum Rentierzüchtertag nach Salechard. Dort haben wir ihre Behausung in allen Einzelheiten erkundet.

Außen klein, innen groß

Die traditionelle Behausung der nördlichen Völker ist der Tschum. Dieses Zelt ist eine kegelförmige Behausung, die für die rauen arktischen Bedingungen geeignet ist. Es ist bei Schneestürmen sehr stabil. Der Schnee lässt sich leicht von den Wänden wegfegen, das Zelt wird von innen schnell warm, und die Konstruktion lässt sich sehr schnell auf- und abbauen.

So sieht der Prozess des Zeltaufbaus bei den Nenzen aus.

Früher wurden die Zelte der Nenzen-Familien von den Frauen aufgebaut, aber diese Tradition gehört heute der Vergangenheit an. Inzwischen wir das Zelt gemeinsam von der ganzen Familie aufgestellt.

„Wir bauen den Tschum im Sommer innerhalb von einer Stunde und im Winter, das heißt, wenn es viel Schnee gibt, innerhalb von drei Stunden auf“, erklärt Marjam, eine junge Frau aus dem Jamal-Dorf Aksarka. In dem Tschum, in dem sie Gäste empfängt, gibt es etwa 40 Stangen und 80 Rentierfelle. „Acht Personen können hier bequem leben“, sagt sie und fügt hinzu, dass die Familien früher größer waren, mit jeweils zehn Kindern, aber jetzt sind fünf oder sechs das Maximum, und es gibt mehr als genug Platz im Zelt. Mithilfe eines Vorhangs (einem so genannten „Polog“) kann man sein „Zimmer“ abtrennen.

Der Durchmesser eines durchschnittlichen Zeltes beträgt unten etwa fünf bis acht Meter. Der Boden ist mit Holzbrettern ausgelegt, die mit Rentierfellen bedeckt sind. In der Mitte befindet sich die Feuerstelle, ein Ofen, der sowohl den Raum heizt als auch als Kochstelle dient. An einer Seite steht normalerweise ein Tisch, an dem sich die Familie und die Gäste versammeln.

„Ein Zelt ist Natur pur“, sagt Marjam. „Wir stellen die Stangen selbst her – wir leben hier in der Waldtundra und es ist kein Problem, Bäume zu finden. Auch die Rentiere gehören uns, die Felle fertigen wir nach und nach an. Aber wenn man den Wert des Tschums in Geld umrechnet, kostet so ein Stück etwa 1,2 Millionen Rubel (umgerechnet 13.500 Euro – in etwa genau so viel kostet eine Einzimmerwohnung in einer russischen Kleinstadt).

„Wenn die Kinder erwachsen werden und eine Familie gründen wollen, legen sie sich einen eigenen Tschum zu. Heutzutage heiraten sie im Alter von 25 Jahren und die Eltern helfen ihnen mit dem Tschum“, sagt Anna aus einer anderen Siedlung.

Darüber hinaus gibt es in Jamal das Tschum-Mutterschaftskapital – nach der Geburt des dritten Kindes kann man einen Bausatz für einen Tschum erhalten. Dazu gehören ein Herd, Stangen, Bretter, Felle, eine Plane und ein Narty, ein Rentierschlitten.

Die Eingeborenen des Nordens halten auch besondere Rituale in Bezug auf die Unterkunft ein. „Eine Frau darf nicht hinter den Herd oder die Feuerstelle treten, das ist für uns ein heiliger Ort“, erklärt Galina aus dem Minlei-Nomadenlager bei Salechard. „Es ist auch verboten, um das Zelt herumzugehen. Wenn man etwas flicken muss, muss man erst auf die eine und dann auf die andere Seite gehen.“

Das Leben aus dem Koffer

„Wir sind Nomaden.  Auf manchen Weiden stehen wir eine Woche, auf anderen einen Monat oder zwei, auf wieder anderen nur einen Tag. Im Winter bleiben wir vier Monate lang, von Januar bis April, an einem Ort“, sagt Mykola aus dem Bezirk Priural.

Das Umherziehen wird kastlanije genannt. Die Routen haben sich seit Jahrhunderten nicht verändert: Die Brigaden folgen den Spuren ihrer Vorfahren, die in der Tundra lebten. Und die Rentierzüchter können im Voraus berechnen, wann sie in der Nähe einer Siedlung sein werden, um sich mit Lebensmitteln und anderen notwendigen Dingen zu versorgen.

Heute haben Rentierzüchter Schneemobile, Autos, Laptops, Mobiltelefone, Walkie-Talkies und benzinbetriebene Generatoren. Vor allem aber, so sagen die Menschen aus dem Norden, haben sie ein Gefühl der Freiheit.

„Wenn man in der Stadt lebt, ist man auf die Zeit angewiesen. Hier muss man nicht nach dem Wecker aufstehen und zum Bus rennen. Du kannst nicht zu spät zu deinen Chefs kommen. Du lebst so, wie es dir dein Schicksal vorgibt“, erläutert Galina.

Inzwischen haben die Familien der Rentierzüchter auf Jamal neben dem Tschum auch ein eigenes Haus oder eine normale Wohnung. Ein Teil der Familie arbeitet im Dorf, andere ziehen dorthin, wenn sie in Rente gehen, während die anderen weiterhin mit den Rentieren umherziehen. Aber alle besuchen sich gegenseitig. Und alle denken mit großer Herzlichkeit an den Wald und die Tundra. 

„Ihr könnt euch wahrscheinlich nicht vorstellen, wie das ist. Um es zu verstehen, müsst ihr dort leben. Wollt ihr mit uns auf kastlanije gehen?“, bietet Anna uns an.