Obwohl Jakutsk weit von Moskau entfernt ist (der Flug dauert über sechs Stunden), ist es eine sehr moderne und wohlhabende Stadt. Doch mit dem Beginn des jakutischen Neujahrs ändert sich alles bis zur Unkenntlichkeit. Fast alle Jakuten erinnern sich daran, dass sie praktizierende Heiden sind, verkleiden sich in ihre Nationaltrachten und ziehen los, um zu feiern.
Seit Jahrhunderten versammeln sich die Jakuten an diesem Tag an einem bestimmten Ort, um ihre Verwandten nach einem langen und strengen Winter zu besuchen. Jakutien ist die kälteste Region Russlands, in der im Winter die Temperatur in der Regel unter -50 °C fällt und das Überleben schwer ist. Nur im Sommer kann man sich ausruhen und das Leben eine Weile lang genießen.
Das Wort Ysyjach kann mit „Überfluss“ übersetzt werden. Dieses Fest findet jedes Jahr am Tag der Sommersonnenwende in jedem Ulus (dt.: Bezirk) Jakutiens statt. Diese Tradition wurde nie unterbrochen, allerdings waren die Veranstaltungen während der Sowjetzeit wesentlich bescheidener. Einige Einwohner schaffen es, das Fest in mehreren Bezirken nacheinander zu besuchen, da es nicht überall am gleichen Tag begangen wird.
Das Fest in Jakutsk ist das beliebteste und besucherreichste. Es findet in der Regel am ersten Wochenende nach dem 21. Juni statt. Mehr als 200.000 Menschen kommen in die Hauptstadt Jakutiens in den ethnografischen Komplex Us Chatyn (dt.: Drei Birken) etwa 25 km nördlich von Jakutsk. Der Legende nach lebten hier die Vorfahren des Volkes der Sacha, wie sich die Jakuten selbst nennen. Das gesamte ethnografische Dorf, das eher einer Stadt gleicht und mehr als 250.000 Menschen beherbergen kann, wurde ausschließlich für diese jährliche zweitägige Feier errichtet. Den Rest des Jahres ist es geschlossen.
„Wir haben drei Jahre auf diese Feier gewartet, da sie während der Pandemie online abgehalten wurde“, sagen die beiden Freundinnen fröhlich und bieten Kumys an, ein Getränk, das aus vergorener Stutenmilch hergestellt wird. „Das gemeinsame Trinken von frischem Kumys ist unser Symbol für das Ende des Winters, wir freuen uns über die Milch, das Essen und darüber, dass wir den Winter überlebt haben und Kraft für das nächste Jahr schöpfen“, sagen sie.
Draußen herrschen über 30 °C, aber sie sind nicht nur in langen, geschlossenen Kleidern und Kopfbedeckungen gekommen, sondern auch mit schwerem Schmuck an Brust, Rücken und Armen (kurze Hosen und andere Freizügigkeiten sind streng verboten). „Traditionell muss der Schmuck aus Silber sein, aber unserer ist aus Neusilber, sonst hält man es bei dieser Hitze nicht lange aus.“
Um zum Fest zu gelangen, muss man sich zunächst einem Reinigungsritus unterziehen: Unter dem Haupttor werden Räucherstäbchen angezündet und Frauen winken dem Gast mit einer Maсhalka aus Pferdehaar zu und wünschen ihm viel Glück. Die Maсhalka ist eigentlich Teil der Nationaltracht der Jakuten. „Sie hat auch einen praktischen Sinn“, sagen die Besucher, „so wehren wir die Mücken ab“ (und die sind zu dieser Zeit sehr aktiv).
Danach sollte man den Aal luuk masa (dt.: Erhabener Riesenbaum) um Segen und Wohlergehen bitten. Der Baum ist ein Symbol für die Einheit der drei Welten und ist bei jeder Ysyjach-Feier zu finden.
Ein Mann geht die Straße entlang, auf der zu beiden Seiten 99 Pfähle zum Anbinden von Pferden stehen. Pferde sind für die Jakuten heilige Tiere und ihre Symbole sind auf Schritt und Tritt zu sehen. Am Ende der Straße befindet sich auf einem Hügel der riesige Anbindepfosten Altan sirge. Wenn man sich ihm nähert, muss man sich verbeugen, die Handflächen auf ihn legen und einen Wunsch äußern. „Man kann sich alles für jeden wünschen und wir glauben, dass die Wünsche, die hier geäußert werden, in Erfüllung gehen“, sagt die junge Frau, während sie darauf wartet, dass sie an der Reihe ist. Dieser Ort strahlt tatsächlich eine besondere Energie aus, ein Gefühl der Hoffnung auf das Beste.
Die Gäste werden dann direkt in den Hauptteil des Komplexes gebracht, der eine Rekonstruktion alter jakutischer Birkenrindenhäuser ist, die einem riesigen Tschum, einer sibirischen Spitzjurte, ähneln. An einer Stelle wird ein Film gezeigt, an andren Stellen Souvenirs verkauft oder Wettbewerbe veranstaltet. Auch andere Völker Jakutiens, wie die Tschuktschen, die Ewen und die Jukagiren, haben in dem Komplex ihren eigenen Bereich. Jakutien ist eine Vielvölkerrepublik!
Viele Menschen besuchen nur wegen der Sportwettbewerbe das Ysyjach-Fest. Volkssportarten sind in Jakutien sehr beliebt. Am bekanntesten ist das Mas-Tardyhyyta, eine Art Tauziehen mit einen Stab. Auf einer anderen Bühne verfolgen Tausende Menschen Wettkämpfe im Dygyn-Oonnyylara. Die Disziplinen sind recht ungewöhnlich, wie zum Beispiel, das Hinterherlaufen hinter jungen Frauen. „Früher“, erklärt ein Zuschauer, „hat derjenige, der das Mädchen eingeholt hat, es geheiratet. Aber heutzutage geht es nur noch um die beste Zeit. Heute ist es praktisch unmöglich, das Mädchen einzuholen, denn es wird die beste Läuferin der Republik dafür ausgewählt.“
Eine weitere interessante Sportart ist das Ziehen eines 115 Kilogramm schweren Steins über eine bestimmte Strecke. Es ist nahezu unmöglich, ihn anzuheben: Er ist schwer, hat scharfe Kanten und rutsch den Wettkämpfern aus ihren verschwitzten Händen.
Gegen 2 Uhr nachts ertönt auf dem Spielfeld eine Lautsprecherstimme, die die Zuschauer auffordert, alle elektrischen Geräte abzuschalten und sich zur Hauptveranstaltung zu begeben.
Der Höhepunkt der Feierlichkeiten ist die Begrüßung der aufgehenden Sonne, mit der der Beginn des Sommers – und des neuen Jahres – gefeiert wird.
Stellen Sie sich nur vor: eine Stunde vor der Morgendämmerung, Nebel bedeckt das Feld und Tausende von Menschen bilden einen Kreis. Der Algystschyt, der Beschwörer der guten Kräfte (der jedoch kein Schamane ist!) und sein Gefolge in weißer Kleidung mit Glöckchen in den Händen schwenken immer stärker ihre Arme. Der Algystschyt verneigt sich in die vier Richtungen des Lichts, entfacht ein Feuer und opfert den Gottheiten Kumys, Salamata (dt.: Mehlbrei) und Krapfen.
Menschen in weißen Gewändern beräuchern die Lichtung, indem sie mit rauchenden Schalen im Kreis vorbeiziehen. Sie pflanzen junge Bäume und begrüßen die Morgendämmerung mit dem Wunsch nach Wohlergehen und Überfluss.
Und schließlich erscheint die neon-rote Sonne über dem Horizont.
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