Können alle historischen Mythen ein für alle Mal entlarvt werden?

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GEORGI MANAJEW
Manchmal stolpere ich über meine eigenen alten Artikel, in denen ich allen Ernstes historische Mythen und Missverständnisse nacherzähle. Ich muss nun eine Richtigstellung meiner eigenen Äußerungen schreiben, bin ich doch von Haus aus Historiker.

Zu einer meiner Führungen auf dem Roten Platz kam eine sehr stark geschminkte Dame im besten Alter. Sie hörte während der gesamten Führung geduldig zu. Am Ende sagte ich ihr, dass die Blendung des Architekten der Basilius-Kathedrale nur eine Legende sei. Da platzte es aus der Dame heraus, und die Führung endete mit ihrer wütenden Erwiderung, dass die Kathedrale von zwei Architekten, Postnik und Barma, erbaut wurde, und beiden stach der Zar die Augen aus. Ich widersprach nicht.

Ebenso sind heute viele Menschen davon überzeugt, dass Zar Peter in Europa gegen einen Doppelgänger ausgetauscht wurde, dass man St. Petersburg auf den Knochen toter Bauern errichtet hat, dass Rasputin der Liebhaber der Zarin war, dass Hitler nicht Selbstmord beging, sondern sich in Argentinien versteckte, und so weiter. Warum also ist es so schwierig, Mythen aus dem Massenbewusstsein zu verdrängen?

Treibstoff für Kontroversen

Tatsache ist, dass Mythen ungewöhnlich hartnäckig sind. Neue Generationen von Lesern kommen hinzu, und erneut beginnen sie, das zu korrigieren, was sie für Fehler halten.

Man denke nur an einen schweren Autounfall, die Aufteilung eines Grundstücks unter sieben Erben oder den Konkurs eines Stahlwerks. Jeder der Beteiligten hat seine eigene Version, Zeugen, Anwälte, Beweise und Videoaufzeichnungen, und jeder wird seine eigene Argumentation verfolgen, selbst wenn er weiß, dass er sich offensichtlich irrt. Es tauchen nicht nur verschiedene „Versionen“ vergangener Ereignisse auf, sondern es werden auch Dokumente gefälscht, um diese Versionen zu stützen. Es werden bestochene Zeugen vernommen, und vielleicht wird die endgültige Gerichtsentscheidung ungerecht sein, wenn der Richter selbst zuvor bestochen wurde.

Jeder dieser Fälle wird irgendwann zu Ende gehen. Aber die Streitigkeiten über die Vergangenheit hören nie auf. Man könnte berechtigterweise entgegnen: Aber es gibt doch Quellen, in denen alles aufgezeichnet ist – was gibt es da noch zu diskutieren? Das Problem ist, dass die Quellen wie ein endloses Bücherregal des verstorbenen Urgroßvaters sind, aus dem ständig neue Bücher, Notizen und Papierschnipsel herausfallen – und die Vergangenheit verändert sich. Oder besser gesagt, unsere Vorstellung von ihr ändert sich.

Jahrhundert lang glaubten Historiker einhellig, dass das 1848 in der Ukraine gefundene Götzenbild von Sbrutsch ein echtes Relikt des slawischen Heidentums ist. Doch 2011 lieferten die ukrainischen Archäologen Olexii Komar und Natalia Chamajko ernstzunehmende Argumente dafür, dass das Idol eine Schöpfung des lokalen Dichters und Liebhabers der Antike Tymon Saborowskij (1799-1828) ist, was die Diskrepanz zu anderen ähnlichen Funden erklärt.

Nach der Veröffentlichung des Artikels war die wissenschaftliche Gemeinschaft gespalten. Die Debatte ist immer noch im Gange. Es ist jedoch klar, dass sich die Vergangenheit weiterhin verändern wird und dieser Prozess niemals enden wird. Neue Quellen werden auftauchen, und die Historiker der Zukunft werden neue Entdeckungen machen.

Deshalb werden auch die historischen Mythen ewig weiterleben. Sie sind einfach sehr bequem. Mehr als 150 Jahre lang hat man geglaubt, dass das Götzenbild von Sbrutsch authentisch sei. Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten, Vorträgen und Interpretationen der Vergangenheit stützten sich auf diese Tatsache. Wenn sich nun herausstellt, dass das Götzenbild eine Fälschung ist, sind all diese Arbeiten nichtig. Wäre es nicht besser, die Angelegenheit irgendwie ruhen zu lassen?

Einfache Erklärungen

Mythen über historische Ereignisse sind „bequem“. Oft lösen solche Legenden auf einen Schlag komplexe historische Probleme, die anders nicht zu interpretieren sind. Nehmen wir den Mythos vom Austausch des Zaren Peter in Europa während der Großen Gesandtschaft 1697-1698. Im März 1698 kam es in Moskau zu einem Aufstand der Strelizen, die unter schwierigen Bedingungen in weit entfernten Garnisonen dienen mussten. Ein paar Dutzend Strelizen verließen ihren Dienst und gingen nach Moskau, um sich über ihren Versorgungsnotstand zu beschweren.

Zur gleichen Zeit kamen keine Briefe und Befehle von Zar Peter mehr aus Europa. Der Adel in Moskau wurde unruhig – war der Zar tot? Die brodelnden Unruhen der frühen 1680er Jahre, die auf die Thronbesteigung von Peter und Iwan unter der Regentschaft ihrer Schwester Sofia folgten, waren dem Adel noch gut in Erinnerung. Die Bojaren zögerten, die Rebellion niederzuschlagen und Nachforschungen anzustellen, um nicht im Falle eines Machtwechsels unter eben jenen Strelizen leiden zu müssen.

Bald wurde der Briefwechsel wiederaufgenommen – der Grund für die Verzögerung war das beispiellos schlechte Wetter in jenem Frühjahr. Der Zar kehrte bald daraufhin nach Moskau zurück und ließ die Strelizen brutal verfolgen und hinrichten. Dann begann er mit seinen Reformen, die die alte Moskauer Gesellschaft schockierten. Damals entstand der Mythos vom „Austausch“ des Zaren – war er doch wie ausgewechselt zurückgekommen! Zornig und wütend begann der Imperator, die gesamte Ordnung des Lebens umzuwälzen! Es war so bequem, die Härten der Reformen und Kriege mit der Tatsache zu erklären, dass der Zar ein Doppelgänger war!

Das ist der Grund, warum Mythen so langlebig sind. Es ist besser, den Weg zur Wahrheit abzukürzen, als die Feinheiten der Geschichte, die Intrigen und den Einfluss von Machtgruppen, Wirtschaft und Politik zu verstehen – der Zar wurde einfach ersetzt und damit lässt sich alles erklären! Es ist genauso einfach, die unlogischen Handlungen von Nikolaus II. in den Jahren 1905-1917 mit dem Einfluss des mystischen alten Mannes Grigorij Rasputin und den Zusammenbruch der Opritschnina von Iwan dem Schrecklichen damit zu erklären, dass der Zar einfach verrückt gewesen sei. Mythen sind sehr praktisch und vor allem einleuchtend. Und die Menschen haben eine Vorliebe für schöne und romantische Geschichten.

Wäre es nicht romantisch, wenn König Alexander wirklich in den Wald gegangen wäre und den Rest seines Lebens damit verbracht hätte, seine Sünden zu sühnen? Es gibt zwar keine konkreten Belege für diese Version, dafür aber doch jede Menge Gegenargumente.

Und kling es zwar schrecklich, aber nicht dennoch schön, dass die Architekten der Basilius-Kathedrale direkt auf dem Roten Platz geblendet wurden? Natürlich ist es viel einfacher, dies zu glauben, als sich mit dem Studium von Dokumenten und Fakten zu befassen.

Und indem er solche Mythen nacherzählt, gewinnt der Erzähler sofort die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer – Mythen sind immer faszinierend und sprechen die Urinstinkte der Massen an. Deshalb kann man noch so oft erklären, dass Grigorij Rasputin nie mit der Zarin Alexandra Fjodorowna allein war und weniger als zehn Mal persönlich mit der Zarenfamilie verkehrte – in der Volksmeinung wird er für immer im Schlafgemach der Zarin bleiben.

Wir können die Mythen nicht besiegen.

Georgij Manajew ist Journalist von Russia Beyond und Historiker.

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