Russlands Wirtschaft 2017

Dmitri Divin
Nach zwei Jahren Rezession keimt die zarte Hoffnung auf neues Wachstum im kommenden Jahr. Die Wirtschaft des Landes hat sich an den Verfall der Energiepreise größtenteils angepasst und den Währungsschock vom Dezember 2014 
weitgehend verdaut. Doch wie geht es weiter? Kann das Land wachsen, wenn der Ölpreis stagniert, und woher sollen die Investitionen kommen? Russische Ökonomen stellen RBTH ihre Prognosen 
für das kommende Jahr vor.

Bild: Dmitri DivinBild: Dmitri Divin

Fünf Szenarien für Russland

Jakow Mirkin, Ökonom

Wichtigste Voraussetzungen für das Wirtschaftswachstum in Russland: ein deutlicher Anstieg der Öl- und Gaspreise und eine stabile Nachfrage nach Brennstoffen in der Europäischen Union – diese macht 40 Prozent des russischen Außenhandels aus. Ein kräftiger Wachstumsmotor ist die Rubelabwertung. Sie hat Importen den Riegel vorgeschoben und heimische Produzenten angespornt. Ein weiterer Bonus: staatliche Investitionen. Damit wurden zwischen 2014 und 2016 der Agrarsektor, die Rüstungsindustrie und 
einzelne Regionen geflutet. Alles andere bremst die Wirtschaft eher ab, drängt sie in die Depression: der Mega-Leitzins, die restriktive Geldpolitik, Sparmaßnahmen, exponentiell wachsende Verwaltungskosten, eine sehr niedrige Investitionsquote, fehlendes langfristiges Kapital.

Im Ergebnis haben wir stellenweisen Wachstum (im Agrar- und Rüstungssektor, wo es viel staatliches Geld gibt). Außerdem kriselt es bei Investitionen und im Sozialbereich (die Realeinkommen sinken). Andere Wirtschaftssektoren schwingen um den 
Nullpunkt. Daraus lassen sich mehrere Szenarien ableiten.
1. Wiederholung von 2016: Ein Leben am Nullpunkt. Am Fenster eilen Gestalten vorbei, die sich noch beeilen können. Wahrscheinlichkeit: 45 Prozent.
2. Schwaches Wachstum: Schlicht, weil ein Leben ohne Vorankommen unmöglich ist. Unternehmen und Verbraucher versuchen, etwas Neues zu finden, aus eigener Kraft nach oben zu kommen. Wahrscheinlichkeit: 20 Prozent.
3. Stärkeres Wachstum: Rohstoffpreise ziehen an. Wahrscheinlichkeit: 15 Prozent.
4. Abrupte Abkühlung der Konjunktur: Finanzen, Preise, Systemrisiken geraten außer Kontrolle. Mögliche Ursachen dafür wären ein starker Dollar, Preisverfall auf Öl und Gas, Ansteckungsgefahr im Finanzwesen. Eine weitere Ursache: eine kränkelnde Wirtschaft infolge des „Kälteeinbruchs“ seit 2014. Der Patient ist noch am Leben, sich aus eigener Kraft erheben kann er aber nicht mehr. Wahrscheinlichkeit: zehn Prozent.
5. Die Regierung geht dazu über, das Wachstum entschlossen zu fördern – durch erschwingliche Kredite, Steuerimpulse, sinkenden Leitzins, weitere Rubelabwertung, höhere Investitionsquote – auch durch Staatsausgaben –, Bekämpfung nicht-monetärer Inflation (infolge staatlich regulierter Preise und Tarife). Der Staat versucht, das Wirtschaftswunder aus dem Agrarsektor, in dem eben diese Rahmenbedingungen geschaffen wurden, auf die gesamte Wirtschaft zu übertragen. Wahrscheinlichkeit: zehn Prozent.

Der Autor leitet die Abteilung für internationale Kapitalmärkte am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Potenzial bei Konsum und Investitionen

Sergei Aleksaschenko, Ökonom
 
Das Jahr 2016 schneidet per saldo deutlich besser ab als das Vorjahr: Die Rezession wurde gestoppt, die Inflation geht entschieden zurück, der Wechselkurs des Rubels zeigt sich stabil. Doch zieht das Ende der Rezession nicht automatisch Wirtschaftswachstum nach sich. Experten sind sich indes einig, dass Russlands Wirtschaft ein Wachstumspotenzial von jährlich 3,5 bis vier Prozent hat. Die Kernfrage der Wirtschaftsprognosen für 
das kommende Jahr bleibt deshalb: Wird die russische Regierung dieses Potenzial 
oder einen maßgeblichen Teil davon freisetzen können?
 
Ich habe keine Zweifel, dass ein schwaches Wachstum im Bereich von einem Prozent für die russische Wirtschaft 2017 definitiv möglich ist – vorausgesetzt, externe Schocks bleiben aus. Anlass zu dieser Gewissheit gibt das marktwirtschaftliche Wesen der russischen Wirtschaft: Das Gleichgewicht wird durch freie Preisbildung und den freien Wechselkurs des Rubels erzielt. Den stabilen Zustand hat die russische Wirtschaft bis Mitte dieses Jahres erreichen können, allerdings zu einem hohen Preis: Der Konsum ging innerhalb von zwei Jahren um 15, die Investitionen gingen um zehn Prozent zurück. Diese beiden Größen der Binnennachfrage bieten also das größte Wachstumspotenzial für die nächste Zeit. Seit Frühjahr stellt die offizielle Statistik einen langsamen Anstieg der Reallöhne fest, der beim Privatkonsum jedoch bislang nicht ankommt. Die wohlhabenderen Russen ziehen es vor, ihr Geld auf Bankkonten zu lagern, statt Autos und Immobilien zu kaufen. Wird die Regierung die Nachfrage in diesen Marktsegmenten stimulieren können, wird dies die Konjunktur unweigerlich ankurbeln.
 
Bei Investitionen ist die Lage schwieriger. Zwar steigt Russland in internationalen Ratings auf, doch springen die Investitionen nicht an. Zwei Hürden stehen Investitionen im Wege: die Sanktionen und das Rechtssystem. Die Sanktionen haben die politischen Risiken einer unternehmerischen Tätigkeit in Russland erhöht. Und das Rechtssystem genießt weiterhin wenig Vertrauen, weil es die Eigentumsrechte der Unternehmer immer noch nicht garantieren kann. Zeigt sich in einem dieser Bereiche in der ersten Jahreshälfte 2017 ein deutlicher Fortschritt, sind für die zweite Hälfte des kommenden Jahres positive Auswirkungen auf das Tempo des Wirtschaftswachstums zu erwarten. Gibt es diese Fortschritte nicht, wird Russlands Wirtschaft es kaum über das einprozentige Wachstum schaffen.
 
Der Autor ist ehemaliger Vize-Chef der russischen Zentralbank und Senior Fellow beim US-Thinktank The Brookings Institution.
 

Investitionen sind die letzte Hoffnung

Olge Buklemischew, Ökonom
 
Wirtschaftswachstum basiert auf Nettoexporten, Privatkonsum und Investitionen. Lassen wir den Ölpreis als Wachstumsmotor einmal außen vor, bleibt die rapide Rubelabwertung die einzige Alternative, um bei Exportüberschüssen zuzulegen. Die Abwertung der heimischen Währung würde zunehmende Importe beschränken. Da die Ausweitung der Gegensanktionen oder andere Ereignisse, die zur Kapitalflucht führen würden, für das nächste Jahr nicht zu erwarten sind, bleiben Nettoexporte angesichts der derzeitigen Notenbankpolitik in Russland kein zuverlässiger Wachstums-treiber für das nächste Jahr.
 
Zumal die Rubelabwertung den Privatkonsum noch weiter untergraben würde, der ohnehin durch die das zweite Jahr in Folge sinkenden Realeinkommen zurückgeht. Und sollte der Einkommensrückgang gestoppt werden, würde sich dies beim Konsum kaum bemerkbar machen. Laut einer Umfrage der russischen Zentralbank bessert sich die Kauflaune der Russen zwar wieder, doch in die wirtschaftliche Zukunft blicken die meisten nach wie vor mit Skepsis. Also bleiben nur die Investitionen, um die Konjunktur im kommenden Jahr zu beleben. In ihren optimistischen Prognosen rechnet die russische Regierung mit der baldigen Zunahme von Investitionen ins Stammkapital – und zwar vor allem privater Investitionen.
 
Das Wichtigste, was die Regierung tun kann, ist, die zielgerichtete Verbesserung des Investitionsklimas fortzusetzen: Eigentumsrechte garantieren, das Gerichtssystem reformieren, die Finanzmärkte fördern und deregulieren. Weitere Schritte hin zum Ende des Sanktionskriegs könnten Russlands wirtschaftliche Aussichten deutlich verbessern, doch ist dies leider nur wenig wahrscheinlich. Und die Versuche, das Wirtschaftswachstum durch Umverteilung billigen Geldes oder angeordnete Investitionen durch staatliche Unternehmen künstlich hochzuschrauben, können den Wachstumsmotor nicht ankurbeln: Nach einer kurzzeitigen Belebung stünde die russische Wirtschaft unweigerlich wieder vor einem Investitionseinbruch. Mit anderen Worten: 2017 ist Russlands Wirtschaft zum Wachstum noch nicht bereit.
 
Der Autor leitet das Zentrum für wirtschaftspolitische Studien an der Moskauer Lomonossow-Universität.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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