Was bedeutet das Türkei-Referendum für Russland?

Turkish President Tayyip Erdogan, accompanied by his wife Emine Erdogan, addresses his supporters in Istanbul, Turkey, late April 16, 2017

Turkish President Tayyip Erdogan, accompanied by his wife Emine Erdogan, addresses his supporters in Istanbul, Turkey, late April 16, 2017

Reuters
Eine knappe Mehrheit der Türken hat für eine Verfassungsänderung gestimmt, die den Wechsel von einer parlamentarischen Republik zum Präsidialsystem ermöglicht. Wäre es nach in Russland lebenden Türken gegangen, wäre die Wahl anders entschieden worden.

 Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Frau Emine Erdoğan in Istanbul nach dem Referendum. / Reuters Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Frau Emine Erdoğan in Istanbul nach dem Referendum. / Reuters

Die Türkei hat sich entschieden: Im Verfassungsreferendum am vergangenen Sonntag stimmten 51,4 Prozent der Wähler für eine Verfassungsänderung. Sie sieht eine radikale Reform des Regierungssystems vor: Aus der parlamentarischen Republik wird ein Präsidialsystem. Das heißt konkret, dass die Befugnisse des Präsidenten erweitert werden und der Posten des Ministerpräsidenten abgeschafft wird.  

Für einen Teil der türkischen Gesellschaft, der für die Verfassungsänderung stimmte, ist der Wechsel zum Präsidialsystem nur eine weitere, konsequente Etappe in der Entwicklung des Landes. Eine starke Türkei sei nur mit einem starken Präsidenten möglich, sagen die Ja-Wähler. Ihre Gegner – immerhin 48,6 Prozent – sehen in der kommenden Reform dagegen die Verwandlung in einen autoritären Staat, die Abkehr von Europa und weitere Repressionen gegen die Opposition.

Reaktionen aus Russland

Russland hat den Ausgang des türkischen Referendums mit Spannung erwartet. Fast alle Zeitungen, Internetportale und TV-Sender berichteten darüber. Die erste offizielle Reaktion kam von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, der auf einer Pressekonferenz erklärte, Moskau würde das Referendum als innere Angelegenheit der Türkei bewerten. „Unserer Meinung nach ist die Willenserklärung des türkischen Volkes zu respektieren“, sagte Peskow.

Der russische Präsident Wladimir Putin gratulierte am Dienstagabend seinem türkischen Amtskollegen „zu einer erfolgreichen Durchführung des Referendums über die Verfassungsänderung“, wie auf der Homepage des Kremls zu lesen ist.

Ein weiterer Glückwunsch kam von Wladimir Schirinowski, dem populären Chef der Liberal-Demokratischen Partei Russlands und selbst Turkologe, der oft die russisch-türkischen Beziehungen kommentiert. In seinem Telegramm an Erdoğan verlieh Schirinowski seiner Hoffnung auf eine kontinuierliche Verbesserung der bilateralen Beziehungen Ausdruck. Der Politiker betonte, dass die beiden Staaten ihre Beziehungen im Format Nord-Süd entwickeln müssten – das sei eine wichtige Voraussetzung für die Verbesserung in den kommenden Jahrzehnten, die im Herbst 2016 ihren Anfang genommen habe.

Konstantin Kosachev, Vorsitzender des Komitees für internationale Beziehungen im Oberhaus des russischen Parlaments, dem Föderationsrat, kommentierte das Referendum auf Facebook. Erdoğan, so bemerkte der Politiker, strebe nach mehr persönlicher Macht und scheine auf die europäische Integration verzichten zu wollen. Mögliche Folgen des Referendums für Russland erwähnte Kosachev nicht. 

Die Proteste nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei. / ReutersDie Proteste nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei. / Reuters

Differenzen in bilateralen Beziehungen

Moskau und Ankara sind in einigen politischen Fragen verschiedener Ansicht. Vor allem die Krise in Syrien ist ein ständiges Streitthema: Trotz der Zusammenarbeit im Rahmen des Friedenprozesses in Astana und der ständigen Kooperation der Außen- und Verteidigungsministerien können sich die Länder bezüglich der syrischen Kurden und des Assad-Regimes nicht einigen. Die Türkei ist gegen jegliche Beteiligung von Kurden an den Friedensgesprächen. Russland dagegen unterstützt die Kurden und besteht auf ihre Teilnahme zur Beilegung des Konflikts. Vor dem Giftgas-Angriff in Idlib schlug die Türkei noch versöhnliche Töne an und pochte zumindest nicht mehr auf einen Rücktritt Assads. Doch nach dem Vorfall nahm die Türkei diese Rhetorik wieder auf.    

Die Meinungsdifferenzen in der Politik wirken sich auch auf die Wirtschaft aus. Ein Teil der gegen die Türkei eingeführten Sanktionen ist noch immer nicht aufgehoben – sie waren als Reaktion Moskaus auf den Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe im November 2015 eingeführt worden. So gilt beispielsweise ein Import-Embargo für türkische Tomaten und Gurken. Auch die einseitige Visapflicht für türkische Bürger ist weiterhin in Kraft. Und erst seit dem 15. März gelten in der Türkei hohe Einfuhrzölle auf russische Agrarprodukte, konkret auf Weizen, Mais, Pflanzenöle und Schrot.

Die Verluste für die russische Wirtschaft infolge der Lieferbeschränkungen von Getreide, Öl und anderen Agrarprodukten werden für 2017 auf etwa 1,3 bis 1,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das geht aus einem gemeinsamen Bericht der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation, dem Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik und der Allrussischen Außenhandelsakademie hervor.         

Beobachter glauben, dass das Referendum in der Türkei kaum einen Einfluss auf die russisch-türkischen Beziehungen haben wird oder gar Differenzen wird ausräumen können. „Die Machtverhältnisse in der Türkei bleiben unverändert, neue Befugnisse wird erst der nächste Präsident erhalten, der im November 2019 gewählt wird“, erklärte Ilschat Sajetow, Turkologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Nahost- und Mitteloststudien am Institut für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften.

„Größere Gefahren bergen die Syrien-Krise und die türkisch-US-amerikanische Annäherung in der Assad-Frage. Das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei wird einen Zick-Zack-Kurs fahren – in Phasen der Krise wird es sich zuspitzen, dazwischen wird sich die Wirtschaft erholen können“, führte Sajetow weiter aus.    

Auch Leonid Sluzki, Vorsitzender des Komitees für internationale Beziehungen in der Staatsduma, ist überzeugt, dass das türkische Referendum keine Auswirkungen auf die Beziehungen mit Russland haben wird. „Das Verhältnis zur Türkei ist nicht einfach, aber auf jeden Fall partnerschaftlich sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik. Es gibt keine Zweifel, dass das nach dem Referendum so bleiben wird“, erklärte er auf Anfrage von RBTH.

Wie haben in Russland lebende Türken abgestimmt?

An der Abstimmung zum Referendum nahmen 3 201 in Russland lebende türkische Staatsbürger teil. Davon stimmten 833 (26 Prozent) für die Verfassungsänderung und 2 368 (74 Prozent) dagegen. Diese Ergebnisse unterscheiden sich stark von denen in Europa: In den Niederlanden stimmten 71 Prozent mit Ja, in Belgien 75 Prozent, in Österreich 73 Prozent, in Deutschland 63 Prozent und in Frankreich 65 Prozent.   Der in Moskau lebende türkische Jurist und Politikwissenschaftler Efe Tanay führt diese Diskrepanz auf das unterschiedliche Bildungsniveau zurück: „Der ehemalige türkische Energieminister hat auf den Bildungsfaktor als entscheidende Komponente hingewiesen. Er meinte, es sei eher unwahrscheinlich, dass Bürger mit hohem Bildungsniveau für die Regierungspartei und ihre Änderungen stimmen würden. Alle Großstädte in der Türkei, wo die Bevölkerung besser ausgebildet ist, stimmten gegen die Verfassungsänderung. Die Unterschiede in den Ergebnissen in Europa und in Russland oder den USA sind darauf zurückzuführen, dass dort gut ausgebildete Türken wohnen, die verstehen, welche Risiken das neue Präsidialsystem mit sich bringt.“  Ja Okan Yildiz, Student aus Moskau„Ich habe für die Verfassungsänderung gestimmt. Das Präsidialsystem bedeutet eine Machtkonzentration in einem Zentrum. Es wird nicht mehr nötig sein, komplizierte Koalitionen zu bilden, was für ein parlamentarisches System typisch ist. So wird eine Basis für eine starke Wirtschaft und Stabilität in der Türkei geschaffen – so wie in Russland. Außerdem werden junge Leute sich aktiver in die Politik einbringen können.“   Nein Mehmet Aydin*, Geschäftsmann aus Sankt Petersburg„Ich habe gegen die Verfassungsänderung gestimmt, weil ich gegen eine Konzentration der Macht in einer Person bin. Außerdem bin ich gegen die Abschaffung des Postens des Ministerpräsidenten und gegen die Schwächung des Parlaments. Das Ergebnis dieses Referendums ist ein harter Schlag gegen die türkische Demokratie. Es zeigt, wie polarisiert unsere Gesellschaft ist. Wir brauchen keinen starken Präsidenten für nur einen Teil der Gesellschaft, sondern einen, der Anführer für alle ist.“ * Der Name wurde von der Redaktion geändert.

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