Avantgardistische Ural-Metropole: Fünf Konstruktivismus-Meisterwerke in Jekaterinburg

Die rasende Industrialisierung im Ural in den 1920er und 1930er Jahren führte zu einem Bau-Boom, vor allem im Zentrum der Region: in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg). Bis heute zieren einzigartige Beispiele der sowjetischen Konstruktivismus-Architektur das Stadtbild. Wir nehmen Sie mit auf einen avantgardistischen Spaziergang.

Nach der Oktoberrevolution 1917 verschlug es viele Architekten aus Moskau in  den Osten der jungen Sowjetunion, wo sie Stahlmühlen, Produktionswerke und andere industrielle Projekte verwirklichten. Eine in dieser Hinsicht besonders progressive Region war das Gebiet Swerdlowsk mit der gleichnamigen Hauptstadt (seit 1991 wieder Jekaterinburg) im Ural. Zusätzlich zu den Fabriken mussten auch zahlreiche Verwaltungs- und Wohngebäude her, schnell musste die Infrastruktur dem rapiden Wachstum in Wirtschaft und Bevölkerung angepasst werden. Im Unterschied zu Moskau, wo schon damals weniger Freiflächen für Neubauten zur Verfügung standen, gab es im Ural kaum Platzprobleme. Die entstandenen Gebäude und Komplexe zeichnen sich darum auch durch eine besondere Großzügigkeit in der Flächennutzung aus.  

Wir nehmen Sie nun mit auf einen etwa halbtägigen Spaziergang durch das damalige Swerdlowsk im heutigen Jekaterinburg. Zuvor jedoch empfehlen wir einen Besuch auf dem modernen Business-Wolkenkratzer „Wyssotski“. Von hier aus können Sie sich einen Überblick über die heutige Stadt sowie unsere kleine Konstruktivismus-Tour aus der Vogelperspektive verschaffen:

Von oben können Sie unsere Tour auch nachts nachvollziehen: Rechts sehen sie das halbrunde Hotel Issetj, dahinter befindet sich das Tschekisten-Städtchen. Der Leninprospekt verläuft direkt vor uns, die Hauptpost allerdings liegt außerhalb dieses Ausschnitts.

Hotel Issetj

Ein riesiges weiß-rosafarbenes Gebäude beherrscht den Kreisverkehr zwischen Lenin-Prospekt und Lunatscharskij-Straße. Benannt nach Jekaterinburgs größtem Fluss, bietet das halbrunde Hotel Issetj seit 1933 Hunderten Besuchern der Stadt Platz in 95 Zimmern.

Hotel Issetj im Bau

Eröffnet wurde es damals allerdings als Wohnheim für hochrangige Mitarbeiter der ersten sowjetischen Geheimpolizei, der Tscheka, aus welcher später der NKWD und dann der KGB entstanden.

Während des Zweiten Weltkrieges diente der runde Riese als Unterkunft für aus dem Westen des Landes geflüchtete Familien.

Offiziell ist das Issetj auch heute noch als Hotel in Betrieb. Aufgrund zahlreicher Renovierungen und Sanierungsmaßnahmen steht es jedoch praktisch schon einige Jahre leer und wird gelegentlich nur für Kunstprojekte genutzt. 

Im Erdgeschoss allerdings befinden sich sowohl ein Supermarkt als auch ein gemütliches und günstiges Café-Restaurant, wo Sie die berühmten Ural-Pelmeni in allen Variationen probieren können.

Tschekisten-Städtchen

Direkt hinter dem Issetj schließt sich eine kleine Stadt in der Stadt an. Das Tschekisten-Städtchen wurde in den Jahren 1929 bis 1936 gebaut und sollte den Tscheka-Agenten und deren Familien angemessenen Wohnraum bieten.

Ziel der sowjetischen Architekten war es, jegliche mögliche Spuren des einstigen zaristischen Russlands zugunsten einer echt sowjetischen Lebensweise zu vermeiden. Eine Schlüsselrolle in dem kleinen Geheimdienst-Dorf spielte darum der Dserschinskij-Klub, benannt nach dem Tscheka-Gründer Felix Dserschinskij. Außerdem gab es innerhalb der zwölf Blockbauten einen Kindergarten, Sportplätze und -geräte.

Originalplan für das Tschekisten-Städtchen von Iwan Antonow and Wenjamin Sokolow, 1929

Ursprünglich war auch geplant, eine Gemeinschaftsküche im Dserschinskij-Klub unterzubringen. Darum ist in den Wohnungen selbst grundsätzlich keine Küche vorgesehen gewesen. Mit der Zeit bauten sich die Bewohner jedoch trotzdem wenigstens Küchenzeilen in ihre eigenen vier Wände.

Heute sind die Wohnungen im Tschekisten-Städtchen sehr beliebt auf dem Wohnungsmarkt, denn sie sind hell und groß.

Haus der Presse

An der Ecke des Lenin-Prospekts und der Turgenew-Straße entstand in den Jahren 1929 und 1930 ein absolut neuartiges Haus für die regionalen sowjetischen Presseerzeugnisse des Ural-Verlags. Sowohl die Redaktionen und Verwaltungsräume der drei großen Zeitungen der Gegend als auch die Druckerei befanden sich damals hier unter einem Dach. Das Gebäude hatte Georgij Golubjow geplant, der später Hauptarchitekt der Stadt Swerdlowsk wurde.

Die charakteristischen Fensterfronten sicherten den Redakteuren und Druckern möglichst helle Arbeitsplätze. In die weitflächigen, Loft-ähnlichen Räume passten auch die damals noch sehr großen Druckmaschinen hinein.

Während des Zweiten Weltkrieges mussten Redaktionen und Druckereien zusammenrücken, auch das Pressehaus wurde zur Flüchtlingsunterkunft. Hier allerdings bekamen vor allem Autoren, Journalisten und Schriftsteller, die vor den Kämpfen an der Front im Westen geflohen waren, vorübergehend neue Arbeitsplätze gestellt.

In den 2000er Jahren dann verließ aber auch die letzte der drei großen Zeitungen das alte „Haus der Presse“. Der „Uralskij Rabotschij“ („Ural-Arbeiter“) besteht zwar bis heute, aber mit Sitz in einem neuen Gebäude.

2010 startete im Pressehaus die erste Ural-Biennale. Seitdem haben sich zahlreiche Restaurants, Bars und Clubs in den Lofts eingerichtet und aus dem Haus der Presse einen Vergnügungs- und Unterhaltungskomplex gemacht.

Hauptpost

Jekaterinburgs Postamt Nummer eins – direkt an der beliebten “Plotinka”, dem Damm am Stadtteich des Flusses Issetj, gelegen – entstand 1934 als erste und wichtigste Telegraphen-Station des wachsenden Swerdlowsks. Seine Grundfläche in Traktorform sollte die sowjetischen Bauern und Kolchose-Arbeiter ehren.

In einem Teil befand des riesigen Komplexes befand sich die Telefonstation, die damals schon um die 10.000 Nummern im Stadtgebiet Swerdlowsk bediente. Außerdem gab es noch viele andere wichtige Einrichtungen: Kinderkrippe und Kindergarten, ein Radio-Studio sowieso Freizeitkurse in Handarbeit.

Arbeiterklub "Stroitelj"

Wie überall in der Sowjetunion entstanden auch in Swerdlowsk in jedem Stadtteil eigene Arbeiterklubs, wo der Sowjetbürger nach schwerer, aber getaner Arbeit Kultur genießen, seine Genossen treffen und sich entspannen kann. Märkte, Konzerte, Tanzabende und Feiertage fanden hier statt.

Der Stroitelj-Klub (Bauarbeiter-Klub) am Lenin-Prospekt aber spielte noch eine weitere wichtige Rolle für das kulturelle Leben der Stadt und der ganzen Region: 1943 zog das wiedereröffnete Swerdlowsk-Filmstudio hierein. Zu Sowjetzeiten war es das zweit produktivste und wichtigste nach den Moskauer Mosfilm-Studios. Mittlerweile aber werden die Filme in einem größeren und neueren Komplex gedreht. Und in dem einstigen Arbeiterklub haben sich kleine Boutiquen mit Mode, Souvenirs und historischer Zeitschriften zu einem kleinen Kaufhaus zusammengefunden.

Zum Abschluss unserer Tour finden Sie hier sicher auch ein kleines Andenken für sich und/oder die Daheimgebliebenen!

PS: Jekaterinburg wird heute immer wieder auch als "Hauptstadt des Konstruktivismus" in Russland bezeichnet. Überall in der Stadt finden Sie diese Bauten. Sie müssen nur die Augen offen halten und ab und an einmal den Blick nach oben richten!

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