Tobolsk im Überschwang des sibirischen Barocks

Reise
WILLIAM BRUMFIELD
Dieses architektonische Tor nach Osten beeindruckt mit einer Reihe einzigartiger Konstruktionen.

Bis zur Sowjetzeit wurde Westsibirien in erster Linie von Tobolsk aus verwaltet, dessen Kreml das hohe rechte Ufer des Irtysch, einen Nebenfluss des Flusses Ob, überblickt und damit Dreh- und Angelpunkt der russischen Eroberung Sibiriens war. Hier besiegte im Jahr 1582 eine Gruppe von Kosaken unter der Führung des legendären Jermak und unterstützt von der Adelsfamilie Stroganow die tatarischen Truppen des Khan Kuchum. Boris Godunow – die Macht hinter dem Moskauer Thron ab 1586 und von 1598 an dann auch selbst Zar – hatte das Potenzial Sibiriens erkannt und ließ die Gegend sukzessive vesiedeln. Tobolsk wurde 1587 von dem Kosakenführer Daniel Chulkov am Zusammenfluss von Tobol und Irtysch gegründet.

Oben und unten

Tobolsk ist durch seine Topographie in zwei Abschnitte unterteilt: den oberen und unteren Teil der Stadt. Zum oberen Teil gehört auch der Tobolsker Kreml. Dieser war stets den Behörden und der Macht vorbehalten. Der untere Teil enthielt das Handels-l und Tatarenviertel sowie den Flusshafen.

In der Unterstadt war der Glockenturm der Verklärungskirche (zerstört während der Sowjetzeit) im Snamenskij-Kloster wichtigster Aussichtspunkt. Er bietete eine spektakuläre Nordsicht bis zum Kreml auf seiner steilen Klippe über dem Irtysch.

Bis 1621 war Tobolsk Sitz der riesigen Diözese Sibirien. Eine hölzerne Kathedrale wurde der Heiligen Sophia (Göttliche Weisheit) geweiht. Die Sophia-Widmung verband es mit den Hauptkathedralen der alten Rus in Kiew, Nowgorod sowie Wologda – bis 1620 waren Tobolsk und Sibirien Teil der Diözese Wologda.

In regelmäßigen Abständen wurde die hölzerne Kathedrale von Bränden heimgesucht, nach einem Blitzschlag im Mai 1677 erhielt Metropolit Pawel, Prälat von Sibirien, Unterstützung von Muskow, um das erste gemauerte Gotteshaus in der Art der Moskauer Kreml-Schreine zu bauen. Von Bauschwierigkeiten gebeutelt, wurde die Kathedrale 1686 der Mariä-Entschlafung geweiht und erhielt dazu zwei Hauptaltäre. Die vertikale Dominante im Tobolsker Kreml ist der 174-97 erbaute, 250 Fuß hohe Glockenturm der Kathedrale.

Zwischen Kirchen und Moschee

Unterhalb der Sophienkathedrale in der Unterstadt ist die Dreikönigskirche zu sehen, die 1930 geschlossen und 1949 abgerissen wurde. Ein etwas besseres Schicksal erwartete ihren Nachbarn auf der linken Seite, die reich verzierte Kirche der Heiligen Zacharias und Elizabeth, auch bekannt als die Kirche der Auferstehung. Die Kirche wurde 1757 begonnen, aber erst 1776 fertiggestellt. Sie stellt mit ihrer üppigen Ausschmückung den Höhepunkt des Spätbarocks in Tobolsk dar. Der dreigeschossige Hauptbau wird im Norden und Süden von zweistöckigen Kapellen flankiert, deren abgerundete Ecken die krummlinige Krone mit ihren fünf Kuppeln widerspiegeln. Der Glockenturm, der aus einem großen Vorraum am Westende aufsteigt, ist harmonisch auf die Höhe des Hauptbaus skaliert.

Das Innere der Zacharias-und-Elisabeth-Kirche enthielt die beste barocke Ikonenwand in Westsibirien, aber sie ist nicht erhalten. In den 1930er Jahren wurde das Innere geplündert, der Glockenturm und die Kuppeln wurden abgerissen. Da in der nahegelegenen Erzengel-Michael-Kirche die Bedürfnisse der Pfarrei derzeit erfüllt werden, fand die Restaurierung in einem eiszeitlichen Tempo statt. Die fünf Kuppeln wurden in den späten 1980er Jahren wieder aufgebaut.

Der Glockenturm des Snamenskij-Klosters blickt nach Südwesten in Richtung des Irtysch über den kleinen Fluss Abramowka (oder Monastyrka). Auf der linken Seite befindet sich das Minarett der roten Backsteinmoschee, die Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, um eine hölzerne Moschee zu ersetzen. Es wird angenommen, dass eine Moschee seit Jahrhunderten auf dem Gelände existierte. Hauptgönner war der Kaufmann Tochtasyn Aitmuchametow, der in der Moschee auch eine religiöse Schule (Medresse) einrichten ließ. Die Moschee wurde 1930 geschlossen und erst 1988 der örtlichen muslimischen Gemeinde zurückgegeben.

Erhöhte Kirche des Erhöhten Kreuzes

Rechts der Moschee befindet sich die Kirche der Erhöhung des Kreuzes, das erste Meisterwerk der spätbarocken Architektur der Stadt. Die Kirche liegt zwischen dem Tatarenviertel und dem Irtysch und verdankt ihre unwahrscheinliche, aber prominente Lage der Notwendigkeit, in einem sumpfigen Gebiet in der Nähe des Flusses Pokrowka festen Boden zu schaffen.

Nachdem die Gemeinde Geld gesammelt hatte, um eine Holzkirche zu ersetzen, spendeten die zwei Kaufleute und Brüder Medwedew ein Grundstück, auf dem sie einen niedrigen künstlichen Hügel gebaut hatten, um ihr Haus vor Überschwemmungen zu schützen. Der Bau der Kirche begann im Jahr 1753, acht Jahre später wurde die untere, beheizte Kirche fertiggestellt, zusammen mit einem Vorraum, der an das Medwedew-Haus anschloss. Zehn Jahre später wurde die obere Sommerkirche geweiht, doch chronischer Geldmangel verzögerte die Fertigstellung des Glockenturms auf über dreißig Jahre – bis 1784.

Die Kirche der Erhöhung des Kreuzes zeichnet sich durch eine Harmonie von Höhe und Proportion zwischen dem großen Hauptgebäude und dem prächtigen Glockenturm aus, der sich über einem breiten Vorraum erhebt, der typisch für die Tobolsker Kirchen aus dem 18. Jahrhundert ist. Die Nordfassade bietet Abwechslung in Form einer langen Kapelle aus den Jahren 1790-98.

Wie in anderen sibirischen Städten wurde die Kirchenarchitektur in Tobolsk während der Sowjetzeit stark zerstört. Trotz schwieriger finanzieller Umstände lassen die allmählichen Restaurierungsarbeiten hoffen, dass Tobolsk wieder zu einem Zentrum der spätbarocken Architektur wird.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der russische Chemiker und Fotograf Sergej Prokudin-Gorski ein aufwändiges Verfahren für die Farbfotografie. Seine Vision der Fotografie als eine Form von Bildung und Aufklärung zeigt sich besonders in seinen Fotografien der mittelalterlichen Architektur historischer Siedlungen wie Susdal und Wladimir. Zwischen 1903 und 1916 reiste er durch das Russische Imperium und schoss mit seiner neuen Technik über 2000 Fotografien, die drei Aufnahmen auf einer Glasplatte beinhalten. Im August 1918 verließ er Russland mit seiner Kollektion von Glasnegativen und ging nach Frankreich. Nach seinem Tod im Jahr 1944 in Paris verkauften seine Erben diese Kollektion an die Kongressbibliothek. Im frühen 21. Jahrhundert digitalisierte die Bibliothek die Prokudin-Gorski-Kollektion und machte sie für die Öffentlichkeit frei zugänglich. Zahlreiche russische Webseiten führen nun Teile dieser Kollektion auf.