Auf der kleinen Kolonnade auf dem Turm der Isaakskathedrale, der wohl berühmtesten Kathedrale von St. Petersburg, haben sich mehrere Hundert russische Touristen versammelt. Einige versuchen, das perfekte Foto mit Blick auf die Stadt zu schießen, andere warten im Treppenhaus darauf, dass sie an der Reihe sind, die Kolonnade zu betreten, wieder andere stehen in der gleichen Schlange, sind aber schon auf dem Weg nach unten.
Plötzlich ertönt das laute Trösten einer Vuvuzela, und auf der schmalen Aussichtsplattform wird es noch enger – ein großer Mann mit einer russischen Flagge um den Hals, sorgt für Stimmung. Sein Aussehen lässt ihn wie Asterix aussehen, der zu viel Bier getrunken hat. Und zwar ein paar Fässchen zu viel.
„Wissen Sie, dass heute Russland gegen Belgien spielt? Machen wir uns bereit, der Fußball steht vor der Tür, sammeln wir unsere Kräfte!“, ruft er der ersten Frau zu, der er begegnet.
„Ich weiß, aber lass mich bitte mein Foto machen!“, winkt die Frau ab und fährt fort, Selfies vor der Kulisse der Dächer St. Petersburgs zu schießen.
„Du verstehst gar nichts!!! RUSSLAND, RUSSLAND!“, ruft der Fußballfan lautstark und schaut sich suchend nach Unterstützung durch andere Touristen um.
Solche Szenen konnte man in St. Petersburg am 12. Juni 2021, am TagRusslands, erleben.Es war gleichzeitig auch der Tag des ersten Spiels in in dem Land im Rahmen der Fußball-EM.
An diesem Tag war St. Petersburg mit Fußballsymbolen wie ein Raffaelo mit Kokosraspeln übersät - Euro 2020-Schriftzüge waren auf Bussen, in Schaufenstern, Sportbars und Cafés zu finden. Überall gab es Hinweisschilder mit der Aufschrift Free Fan Zone, wo die Fußball-Liebhaber die wichtigen Spiele auf Großbildschirmen verfolgen, ihre Kinder Fußball spielen lassen und in der Fotozone ein Erinnerungsfoto schießen konnten.
Unweit der Eremitage in der Nähe des Wachsfigurenmuseums wurde sogar eine Statue von Lionel Messi aufgestellt, der von den Einheimischen wegen seiner Körpergröße bereits den Spitznamen Zwerg erhalten hat. Alles war für die Meisterschaft vorbereitet, bis auf eine Sache: Es gab einen eklatanten Mangel an Fans, und der oben erwähnte Schlachtenbummler in der St. Isaakskathedrale war fast der einzige, den man im öffentlichen Raum zu Gesicht bekam.
Tatsächlich waren Recht viele Touristen in der Stadt unterwegs, aber die allermeisten von ihnen hatten mit Fußball nichts am Hut – sie kamen nur zum Spazierengehen nach St. Petersburg, denn zum Tag Russlands, einem offiziellen Feiertag, hat die Regierung der Bevölkerung ein langes Wochenende, vom 12. bis einschließlich 14. Juni, spendiert.
Viele Cafés in der Stadt haben für die Fans eine spezielle Speisekarte erstellt, die meist aus riesigen, herzhaften Burgern, Schawermas, Bliny mit Pilzen und klassischem Borschtsch besteht. Aber selbst am Spieltag waren einige dieser „Schlachtenbummler-Cafés“ halb leer – laut dem Kellner eines der Cafés der Bäckerei-Kette Korschow bestellte fast niemand das Fußballmenü. Die Touristen bevorzugten die Sommerterrassen und tranken dort Wein und Aperol, und nicht wenige Petersburger flohen sogar vor der EM aus der Stadt.
„Ich versuche, nicht auf dem Newski-Prospekt und dessen Umgebung aufzutauchen – als die Grenzen offen waren, war es nicht so schlimm, aber jetzt reisen die meisten Touristen nach St. Petersburg. Dieser Fußball lässt einen noch verrückt werden“, beschwert sich der Anwohner Arthur Morosow.
Eine der größten Fanzonen befand sich auf dem Konjuschennaja-Platz in der Nähe der Auferstehungskirche. Müde Volontäre skandierten in Megaphone, dass der Eintritt in die Fanzone frei sei, aber die meisten Touristen machten trotzdem einen Bogen um den Eingang und verursachten dadurch einen Stau auf der angrenzenden Straße.
Nur hundert Meter von der Fanzone entfernt gab es Stände, die Fußballschals und Magnete mit Putin feilboten. Laut einer der Verkäuferinnen könnte das Interesse nach Fanartikeln größer sein – an diesem Tag hatte sie gerade einmal fünf ausländische Touristen als Kunden gehabt.
Gleichzeitig verkündete am 9. Juni der St. Petersburger Vize-Gouverneur Boris Piotrowskij, dass die Stadt bei jedem Spiel bis zu 10.000 Fans aus dem Ausland erwarte – dafür hat Russland sogar die visafreie Einreise für Inhaber von FAN-ID-Pässen ermöglicht. Echte ausländische Fans konnte ich den ganzen Tag über nicht auf der Straße finden – die wenigen Fotos in der Nähe des Stadions konnte ich nur auf Instagram finden.
Pawel aus Polen fuhr mit seinem Auto am 11. Juni nach Kaliningrad und reiste von dort zum Spiel seiner Nationalmannschaft gegen die Slowakei nach St. Petersburg an.
„Die Organisation war OK, aber die Sicherheitskontrolle am Eingang des Stadions fiel sehr gründlich aus. Im Großen und Ganzen hatten wir keine Probleme mit den Russen, aber einmal fingen einige Jungs in der Fanzone an, mit uns zu streiten, als sie etwas Bier verschüttet hatten <...> Größtenteils gefielen uns eure Restaurants, die Atmosphäre der Stadt – ich meine Denkmäler, die Straßenarchitektur, Kanäle usw. Natürlich mag ich die russischen Mädchen. <...> Was uns missfiel, war dass die Leute hier entweder gar nicht oder nur sehr ungern Englisch sprechen, selbst in Restaurants oder Kneipen“, schildert Pawel seine Eindrücke von der Stadt.
Ein anderer Pole, Olaf Maciejowski, nahm einen Direktflug nach St. Petersburg und wollte am Tag nach dem Spiel Polen – Slowakei über Spanien zurück nach Polen fliegen.
„Die Organisation der Spiele ist sehr gut, ich kann mich eigentlich über nichts beschweren. Die Russen waren wirklich nett. Wir haben die Peter-und-Paul-Festung und die Isaakskathedrale besucht. Wir wollten uns noch die Eremitage anschauen, aber die Warteschlange war zu groß. Der Kauf von Online-Tickets über die Eremitage-Website hat leider nicht funktioniert. Ja, die vielen Schlangen in der Stadt waren in der Tat ein Problem“, sagte Olaf.
Für Aufsehen sorgte lediglich eine kleine Gruppe von Menschen vor dem Astoria Hotel, die einen Blick auf das belgische Team werfen wollten. Die Straße war vor dem Hotel abgesperrt, aber die Leute drängten sich an die Absperrgitter, in der Hoffnung, die ausländischen Spieler zu sehen.
„Wer ist das denn? Kenne ich die?“, fragte eine ältere Frau im Vorbeigehen einen Fan.
"Das sind spitzenmäßige Köche, die machen leckere belgische Waffeln“, scherzte der Mann.
„Ich habe zu den Göttern gebetet, nicht ins Stadion fahren zu müssen, weil ich sonst dort die halbe Nacht festhänge!“, erklärte mir der Taxifahrer, der mich herfuhr. Eine Stunde vor dem Spiel liefen die Fans in kleinen Gruppen durch den Primorskij Park Pobjedy zum Stadion, und die Fanzonen begannen sich schließlich doch noch mit Schlachtenbummlern zu füllen. Aber erst am 16. Juni, dem Tag des Spiels Russland – Finnland, waren sie bis zum Rand gefüllt.
Am 12. Juni versammelten sich die Fans, die es nicht in die Fanzone geschafft hatten, in den Sportsbars. In einer der Bars, in der ich war, wurden die Tische schon Stunden im Voraus reserviert. Das Bier wurde in riesigen Gefäßen in Form eines Pokals mit einem Ball serviert, und für ein richtig getipptes Ergebnis erhielten die Gäste einen solchen 3,5-Liter-Pokal Bier und Snacks vom Haus spendiert.
„Ich schätze die Situation nüchtern ein, deshalb habe 3:1 für Belgien getippt – uns reicht ein Tor“, teilte mir der Fan Wladimir, der mit seiner Freundin Jekaterina da war, optimistisch mit.
Die nächsten anderthalb Stunden des Spiels fluchte er über die Tore, die die russische Auswahl kassierte. Er und seine Freundin tranken zwei dieser 3,5-Liter-Pokale Bier und in den letzten zehn Minuten des Spiels flehte er seine Mannschaft an, doch wenigstens ein Tor zu schießen. Einige Tische waren zu diesem Zeitpunkt bereits leer – die enttäuschten Fans hatten die Bar noch vor Ende des Spiels, das mit 3:0 für Belgien endete, verlassen.
Nach der Übertragung stand Wladimir draußen mit Jekaterina, die nach dem nervenaufreibenden Spiel nervös eine Zigarette rauchte.
„Wo wollt ihr denn jetzt hin?“, fragte ich die beiden.
„Wir haben kein Bier gewonnen, also müssen wir uns neues besorgen. Die Hauptsache, wir reden nicht mehr über Fußball“, antwortete Jekaterina.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!